Zwar leben wir nicht moralbefreit, aber in vielerlei Hinsicht doch tolerant für exzentrisches Verhalten, Ausschweifungen oder Eskapaden. Jede und jeder so, wie es sich richtig anfühlt, hört man oft. Skandale gibt es dennoch: Denken wir an Manager-Boni, Donald Trump, Rocco Siffredi oder das Klima.
Ein Blick auf die Laster von heute ist ein Blick in den gesellschaftlichen Spiegel unserer Zeit.
«Habgier ist keine Sünde, Gier ist Leben»
Da wäre zum Beispiel die Society-Lady Irina Beller. Sie ist bekannt für ihr Ratgeberbuch «Mr. Rich! So heirate ich meinen Millionär». In ihrer Auffassung ist Armut langweilig, Geld macht sexy und gierig sein heisse zu leben. Ressourcendilemma? Nicht ihr Problem. Sie selbst kommt aus einem gut situierten Haushalt in der ehemaligen Sowjetunion.
Nichts wie weg von hier, dachte sich Beller damals: in den Westen, zum Kapitalismus. Und wohin sonst, als ins Bankenland Schweiz? Hier hätten die meisten Millionäre gelebt. Nach zwei weniger glücklichen Ehen lernte sie Walter Beller kennen, einen Bauunternehmer. Die beiden heirateten. Als er fast 20 Jahre später verstarb, erbte sie einen Grossteil seines Vermögens.
Dass sie viel von Statussymbolen wie Schmuck oder Autos hält, darum macht sie keinen Hehl. Ihre Männer bearbeitet sie so lange, bis diese ihr die gewünschten Schmuckstücke schenken. Konsequenterweise sagt sie: Das Einzige, was man sich mit Geld nicht kaufen könne, sei das ewige Leben.
«Neid hat mich weitergebracht»
Dieses nagende Gefühl, wenn jemand etwas hat, das wir auch selbst gerne besässen? Fühlt sich schlecht an – denn niemand gibt gerne zu, wenn er neidisch ist. Wir mögen doch allen stets alles gönnen. Aber was, wenn trotzdem der Gedanke aufkeimt, dass die andere Person ihr Glück nicht verdient hat? Ex-Miss Schweiz und Yoga-Lehrerin, Bianca Sissing, kennt das Gefühl des Neids mehr, als ihr lieb ist. Ihr Neid belastete sie psychisch so sehr, dass sie sich professionelle Hilfe holen musste.
Denn ihr grösster Wunsch war und ist: eigene Kinder zu haben. Bloss: Der Ex-Mann vertröstete sie, später erlitt sie zwei Fehlgeburten. Heute versucht die 45-Jährige weiterhin Kinder zu bekommen. Sie könne nicht verstehen, weshalb gewisse Menschen ungewollt schwanger werden, während sie sich so dafür anstrengen muss.
Kinderneid: Sissing betont, dass sie anderen Familien ihr Kinderglück gönne, ihnen gegenüber nicht missgünstig sei, aber der fahle Beigeschmack, das Unverständnis bleibe. Da ist sie wieder: die Scham vor dem eigenen Neid.
«Trägheit ist eine Folge unserer Turbogesellschaft»
Sonntag, ein Tag des Nichtstuns, ein Ruhetag: Den gönnte sich sogar Gott nach seiner Schöpfung. Klar, das ist eine Weile her. Heute gibt es kaum mehr träge Phasen in unserem Alltag.
Durch Smartphones, E-Mails, Social Media und dergleichen sind wir jedenfalls potenziell ständig vernetzt und motiviert, uns fortlaufend zu vergleichen, auszutauschen und an unserem Geist, unserem Körper, dem Konto oder der Gesellschaft zu schrauben.
Das bringt eine eigene Tragik mit sich: Erschöpfung, Depressionen und Burn-out sind zu Zivilisationskrankheiten geworden. So zumindest sehen es Aussteiger unserer Gesellschaft – wie die Waldmenschen aus Bern. Aus diesem Kreislauf wollten sie aussteigen. Denn: Für Sie bedeutet Leben nicht produktiv zu sein, sondern, so viel zu haben und zu tun, wie gerade nötig und möglich ist.
Beschleunigung und Produktivität sind ihnen ein Graus und Faulheit sei die richtige Antwort auf eine kranke Gesellschaft. Ihre grösste Sorge ist deshalb, einem krankmachenden System zuzudienen. Kann denn Produktivitätsverweigerung Sünde sein?
«Es braucht Hochmut, um Ziele zu erreichen»
Feldherren, Kunstschaffende, Königinnen und Könige – ihnen allen ist das Eingehen in die Geschichte vergönnt. Was würden Sie tun, damit man noch in 100 Jahren von Ihnen spricht? Werke schaffen, Innovationen vorantreiben, das Klima retten? Oder sich vielleicht zum König krönen?
Diese Idee hatte der Burgdorfer Jonas Lauwiner. Sein grösster Antrieb: Er will in Erinnerung bleiben. Er stellte sich eigenhändig in die Reihe der ganz Grossen dieser Geschichte und gründete ein eigenes Imperium, das Lauwiner Empire. Denn: Nur so könne er beruhigt weiterleben.
Dafür lässt er sich Münzen prägen, eine Krone herstellen und inszeniert eine Krönungsmesse. Er kauft sich einen ausrangierten Panzer und sammelt herrenloses Land in der Schweiz, das er an sich überschreiben lässt, um so sein Königreich zu erweitern.
Die Mieter dieses Landes nennt er seine Untertanen. Für Lauwiner ist klar: Hochmut mache mutig und das brauche es, um alle Ziele zu erreichen. Bloss: Wo endet Übermut und wo beginnt Selbstüberschätzung?
Wollust? «Körper sind zum Geniessen da»
Aktuell räkelt sich gerade wieder Jennifer Lopez auf Werbeplakaten. Äusserst leicht bekleidet und deutlich aufreizend, ja beinahe lasziv blickt sie uns entgegen. Man imaginiert sich den Imperativ «Lebe Deine Lust!» dazu. Leben Sie Ihre Lust?
Maggie Tapert kommt dieser Aufforderung jedenfalls schon sehr lange nach. Sie war mal Darstellerin in einem feministischen Pornofilm und ist seit Jahren Sex-Educator. Das heisst, sie gibt Kurse für Spanking, Verführung oder den erfolgversprechendsten Umgang mit Nippeln. Ihre grösste Leidenschaft: Frauen beizubringen, wie sie die Kraft, die zwischen ihren Beinen liege, zelebrieren können. Dazu gehört bei ihr auch eine grosse Sammlung an Dildos, die Tapert im Wohnzimmer ausgestellt hat.
Scham kenne sie keine, sagt sie. Und empfiehlt auch uns, diese abzulegen. Wollust sei eine Sünde? Maggie Tapert ist sie heilig. Denn: Gott habe uns einen Körper gegeben, um ihn zu geniessen – da ist sie sich sicher.
«Wut und Zorn sind Energie»
Zorn ist ein Gefühl, das man kaum verstecken kann. Die Emotionen kochen über, die Sicherungen brennen durch. Aber Zorn ist nicht nur zerstörerisch, er kann genauso produktiv genutzt werden. So empfindet es jedenfalls der Rapper Stress: Wut sei Energie, die man kontrollieren müsse, sagt er.
Stress spricht aus Erfahrung, denn seine grösste Baustelle im Leben sind überbordende Wutgefühle. Geprägt von einer tristen, gewalterfüllten und entbehrungsreichen Kindheit in Estland hat sich in ihm diese Wut entwickelt. Und die überkomme ihn ab und an, bis heute. Für ihn habe sie die Farbe Rot, erzählt er.
Durch Psychotherapie entdeckte er, wie er besser damit umgehen kann, wo seine Triggerpunkte liegen und wie er das aufkeimende Gefühl in Schach hält. Dass er aber unter anderem durch diesen Antrieb Musik machen und damit die Familien seiner Mitmusiker ernähren könne, ist für ihn das schönste Zeichen, dass Wut keine Sünde sein muss.
«Völlerei ist die letzte legale Sucht»
Vom Grillplausch bis zum frivolen Weihnachtsessen: Ausgedehnte Gaumenfreuden sind Teil unseres Soziallebens. Wie oft schleichen Sie sich dabei ans Buffet? Und wie selten lassen Sie den Teller mit Resten zurückgehen?
Der ehemalige Rockmusiker und heutige Gastrokritiker Jürgen Dollase kennt die ganze Bandbreite der kulinarischen Orgie. Von «gehoben» bis zu «den niederen Trieben folgend».
Ausgeschöpft sei der Genuss nie, denn zu entdecken gäbe es im Kulinarischen noch unendlich viel. Sein grösstes Laster also: die Liebe zum Essen. Aber kann denn Liebe Sünde sein? Sicherlich ist sie ein Wohlstandsphänomen.
Eins ist für Dollase klar: Nicht nur das Tier frisst, der Mensch manchmal leider auch. Deshalb hat Dollase auch schon einen Abnehmversuch hinter sich gebracht. Akribisch genau beobachtete er bei dieser Diät, wie viel er für ein einsetzendes Sättigungsgefühl wirklich brauche. Die erstaunliche Antwort: Drei Löffel Joghurt genügten.
Spass macht das nicht. Aber ist mehr denn schon Sünde?