Die Situation ist historisch: Ein amtierender und ein emeritierter Papst leben gleichzeitig im Vatikan. Zwischen den Fronten: Erzbischof Georg Gänswein. 20 Jahre amtete er als Privatsekretär von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Gleichzeitig koordinierte er als Haus-Präfekt Termine für Papst Franziskus.
In seinem neuen Buch «Nient’altro che la verità» («Nichts als die Wahrheit») zeigt Gänswein nun: Das Nebeneinander von Franziskus und Benedikt war verständnisvoll und gleichzeitig kompliziert. So wollte Papst Franziskus gleich nach seiner Wahl seinen Vorgänger anrufen. Er konnte ihn aber nicht erreichen, weil dieser vor dem Fernseher sass und das Klingeln des Telefons nicht hörte.
Unterschiedliche Visionen von Kirche
Andere Anekdote: Franziskus bat seinen Vorgänger Benedikt zu Beginn seiner Amtszeit um dessen Meinung zu einem Interview. Darin erklärte Franziskus, der Beichtstuhl sei «kein Folterinstrument, sondern ein Ort der Barmherzigkeit». Er denke an eine Frau, deren Ehe gescheitert war, in der sie auch abgetrieben hatte.
Benedikt betonte in seiner Stellungnahme, der Respekt vor der Person und die Glaubenslehre der Kirche müssten sich die Waage halten und stellte klar, Abtreibung sei ein «Nein zum Schöpfer».
In Georg Gänsweins Ausführungen wird deutlich, dass Benedikt und Franziskus für unterschiedliche Visionen ihrer Kirche standen: hier die unverrückbare Lehre der Kirche, barmherzige Seelsorge dort. Später verzichtete Papst Franziskus offenbar darauf, Benedikt um seine Meinung zu fragen.
Feindseligkeiten und Intrigen im Vatikan
Georg Gänswein – auch «Don Giorgio» oder «George Clooney des Vatikans» genannt – schildert im eben auf Italienisch erschienenen Buch Konkurrenz, Intrigen und Machtspiele im Vatikan, dem Zentrum der römisch-katholischen Kirche.
Noch ein Beispiel aus dem Buch: Kardinäle versuchten, den emeritierten Papst Benedikt XVI. für ihre Zwecke einzuspannen. Robert Sarah, ehemaliger Leiter einer Kongregation, machte Benedikt 2020 zu Unrecht zum Co-Autor eines Buches.
Damit wollte er seine Forderung gegenüber Franziskus untermauern, den Zölibat beizubehalten, die Verpflichtung von Priestern zur Ehelosigkeit. Georg Gänswein gesteht: «Mir gefror das Blut in den Adern.»
Papst Franziskus stellte Georg Gänswein daraufhin als Haus-Präfekt kalt. Er habe seine Suspendierung als «Strafe» empfunden, gesteht Gänswein im Buch: «Ich war schockiert und sprachlos.»
Wein und Süsses für Benedikt
Das Buch animiert auch zum Schmunzeln. Wenn Papst Franziskus seinen Vorgänger im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan besuchte, brachte er eine Flasche Wein und eine Süssspeise aus seiner Heimat Argentinien mit.
Er wusste von Georg Gänswein: Benedikt liebt «i dolci». Dieser revanchierte sich bei Franziskus mit Lebkuchen aus Bayern.
Georg Gänswein gibt interessante Einblicke in Machenschaften hinter den Mauern des Vatikans. Die Schilderungen widerspiegeln auch seine Eitelkeit. Das Buch wirkt jedoch immer da unglaubwürdig, wo Gänswein seinen ehemaligen Mentor «einen der grössten Protagonisten der Geschichte des letzten Jahrhunderts» nennt.