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Gesellschaft & Religion Alle wollen Integration – aber nicht alle wollen das Gleiche

Am Wert der Integration zweifelt niemand. Doch was damit gemeint ist, ist notorisch unklar. Bedeutet Integration auch Assimillation – dass Zuwanderer ihre Kultur, ihre Religion und ihre Bräuche zugunsten lokaler Gepflogenheiten aufgeben müssen? Mit solchen Fragen befasst sich die Migrationsethik.

Integration ist ein politischer Kampfbegriff: Parteien jeder Couleur schreiben ihn sich auf die Fahne, denn Integration finden alle irgendwie gut. Doch sobald dessen Inhalt und die mit ihm verbundenen Verantwortlichkeiten genauer umrissen werden sollen, könnten die Auffassungen nicht unterschiedlicher sein. Damit ähnelt das Konzept der Integration dem Begriff der Menschenwürde: Alle sind sich einig, dass Menschenwürde wichtig ist, doch was sie beinhaltet und wozu sie berechtigt und verpflichtet, bleibt mehr als strittig.

Recht auf Teilhabe oder Zwang zur Anpassung?

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Die Sternstunde Religion zum Thema Integration mit Amira Hafner Al-Jabaji und Religionswissenschaftler Martin Baumann können Sie online bereits jetzt sehen.

Vergleichbar steht es um das Konzept der Integration: Verstehen die einen unter Integration in erster Linie das Recht von Einwanderern, an den Gütern einer Gesellschaft teilzuhaben, verlangen die anderen im Rahmen von so genannten Integrationsvereinbarungen die Anpassung an die Mehrheitskultur. In den Debatten im Nachgang zum Anschlag auf «Charlie Hébdo» wurde diese Spannbreite überdeutlich: Zwar war man sich durch alle politischen Lager hindurch einig, dass die grausame Attacke mitunter als Ausdruck eines «Integrationsproblems» zu werten sei. Doch besteht dieses Problem darin, dass bestimmten Bevölkerungsgruppen seit Jahren das Recht auf Chancengleichheit verwehrt und damit Extremismus gefördert wird? Oder darin, dass die Angehörigen einer Minderheitskultur sich nicht anpassen wollen?

Integration als Wechselbeziehung

Unbestritten ist lediglich, dass Integration stets eine Wechselbeziehung impliziert: Das Recht auf Zugang zu einer Gesellschaft – wie beispielsweise Sozialversicherungen, Niederlassungsbewilligung oder politische Partizipationsrechte – ist an die Erfüllung der Pflicht geknüpft, diese Gesellschaft und die in ihre geltenden Regeln zu achten oder zumindest nicht zu unterwandern. Dazu gehört unbestritten der Respekt vor der geltenden Rechtsordnung. Doch muss eine Person die Landessprache erlernen oder die lokalen Bräuche pflegen?

Der Zürcher Philosoph Andreas Cassee, der sich seit Jahren mit Migrationsethik befasst, bezweifelt, dass solche Forderungen legitim sind: «Erstens gibt es in vielen europäischen Ländern diese 'Einheitskultur' längst nicht mehr. Eine Katholikin aus einem abgelegenen Tal im Wallis hat mit einem urbanen Hipster aus Zürich wenig gemeinsam», so Cassee. Er stelle fest, dass gerade in der Schweiz zuweilen ein antiquiertes Kulturverständnis zur Leitkultur erhoben werde, die es so längst nicht mehr gebe. Werde Ausländern von den selbsternannten Hütern dieser Werte mangelnder Wille zur Integration vorgeworfen, gehe es in Wahrheit oft mehr um eine Artikulation des Unmuts angesichts der schwindenden Akzeptanz eigener Nostalgie, so Cassee.

Assimilation statt Integration

Buchhinweis

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Andreas Cassee und Anna Goppel (Hrsg.): «Migration und Ethik.» Münster, Mentis Verlag, 2012.

Für Cassee ist es deshalb zutreffender, bei solchen Forderungen nicht von Integrations-, sondern von Assimilationsforderungen zu sprechen: Zuwanderer sollen ihre Kultur, ihre Religion und ihre Bräuche zugunsten lokaler Gepflogenheiten aufgeben. Das Fremde soll also gar nicht in das Lokale integriert, sondern durch letzteres verdrängt werden. Forderungen der kulturellen Assimilation, die über den Respekt vor dem Gesetz hinausgehen, lassen sich Cassee zufolge moralisch aber nicht rechtfertigen.

Wünschbar ist nicht gleich erzwingbar

Die politische Philosophin Anna Goppel, die sich mit ethischen Fragen im Zusammenhang mit Integration und Spracherwerb auseinandersetzt, schätzt die Lage ähnlich ein: So dürften der Zugang zu politischen Rechten wie permanentes Bleiberecht oder Staatsbürgerschaft beispielsweise nicht vom Beherrschen der lokalen Landessprache abhängig gemacht werden. Zwar sei es im Sinne der Chancengerechtigkeit unabdingbar, dass Kinder von Zuwanderern die notwendige Unterstützung im Spracherwerb erhielten. Doch die Eltern mit Verweis auf die Chancengleichheit der Kinder zum Spracherwerb rechtlich zu zwingen, ist Goppel zufolge nicht legitim.

«Sicherlich ist es für die Kinder hilfreich, wenn ihre Eltern die lokale Landessprache beherrschen, und der elterliche Spracherwerb ist deshalb wünschenswert. Aber das Wünschbare ist vom rechtlich Erzwingbaren zu trennen», so Goppel. Schweizer Eltern könnten auch nicht rechtlich dazu gezwungen werden, ihre Kinder anzuhalten, die Hausaufgaben zu machen, auch wenn es wünschenswert sei, dass sie dies tun.

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