In der Schweiz sei eine «Sozialindustrie» entstanden, die von sozialen Problemen profitiere. So heisst es immer wieder in der öffentlichen Diskussion. Entfacht wurde diese unter anderem durch eine Studie. Drei Fachhochschulen haben herausgefunden, dass es 400 «Sozialfirmen» in der Schweiz gibt. Die machen pro Jahr 630 Millionen Franken Umsatz. Die Studie sorgte in Medienberichten für Unmut.
Er verstehe die Aufregung über hohe Fallkosten, sagt Peter Mösch Payot, Professor für Sozialrecht an der Hochschule Luzern. Er warnt jedoch davor, «Kraut und Rüben zu vermischen» und mahnt zur Versachlichung.
Äpfel werden mit Birnen verglichen
Mit den Kosten für Massnahmen im Jugendstrafrecht oder im Kindesschutz hätten die erwähnten 400 Sozialfirmen überhaupt nichts zu tun, sagt Peter Mösch Payot. Im Sozialwesen gelte der Grundsatz: «Wer etwas möchte, muss auch etwas tun. Das Gegenleistungsprinzip ist angesagt, etwa bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Damit das möglich wird, braucht es Unternehmen möglichst nahe am ersten Arbeitsmarkt, welche versuchen, die Leute zu integrieren. Unternehmen, die bereits auf diesem Arbeitsmarkt tätig sind und Produkte verkaufen.» In der Diskussion würden solche Sozialfirmen mit anderen Bereichen des Sozialwesens vermischt.
Teure Ausnahmen
Die hohen Kosten wie in den Fällen «Carlos» und Hagenbuch seien Einzelfälle, stellt Mösch Payot im Interview fest. «Hinter solchen erheblichen Betreuungskosten stehen Geschichten, Versuche, Personen zu integrieren, und viele soziale Probleme für die Betroffenen und ihr Umfeld.»
Das Bundesgericht habe die Verfügungen im Fall «Carlos» im Übrigen als zulässig und richtig beurteilt. Payot gibt zu bedenken, dass die «absolute Ausnahme» dieses Einzelsettings im Erfolgsfall weniger Geld gekostet hätte, «als wenn ‹Carlos› nachher immer wieder im Strafvollzug ist und die entsprechenden Kosten entstehen».
Massnahmen zum Wohl des Kindes
Zum Fall Hagenbuch merkt Peter Mösch Payot an, dass die Sonderschulung der Kinder der afrikanischen Flüchtlingsfamilie zwar teuer sei, aber: «Die öffentliche Schule kostet auch Geld und ist auch nicht gerade billig.»
Im Kindesschutzrecht gelte heute der Grundsatz, dass man Massnahmen ergreifen wolle, die «möglichst kindeswohlgerecht, angemessen und verhältnismässig» seien. «Das heisst zum Beispiel, nicht einfach ein Kind in ein Heim zu schicken, sondern eher ambulante Massnahmen zu treffen.»
Auch das kostet natürlich. In einigen Kantonen werde eine ambulante Massnahme den Gemeinden belastet, eine stationäre hingegen dem Kanton. «Da haben wir ein Kernproblem: Gerade kleinen Gemeinden ist es häufig nicht möglich, diese Kosten selber zu tragen. Das hat mit dem Lastenausgleich zu tun, der auch in jedem Kanton sehr unterschiedlich ist und zum Teil zu Lasten der Gemeinden funktioniert.»
Keine Qual der Wahl
Sendebeiträge
- «Steigende Kosten für Straftäter», Rendez-vous, 26.3.2014 «Steigende Kosten für Straftäter», Rendez-vous, 26.3.2014
- Carlos muss seine Chance wahrnehmen», Regionaljournal, 3.3.2014 Carlos muss seine Chance wahrnehmen», Regionaljournal, 3.3.2014
- «Neues Sondersetting für Carlos», Regionaljournal, 28.2.2014 «Neues Sondersetting für Carlos», Regionaljournal, 28.2.2014
- «Fall Carlos», Regionaljournal, 28.2.2014 «Fall Carlos», Regionaljournal, 28.2.2014
Bei seiner Beratungstätigkeit für Gemeinden habe er festgestellt, dass «in den schwierigen Fällen nicht einfach zehn Varianten zur Verfügung» stehen, sagt Peter Mösch Payot, «sondern es ist entscheidend, überhaupt eine Lösung zu finden». Dafür brauche es «Profis, die das Massnahmensystem kennen und den Markt, die wissen, welche Angebote es gibt».
Bei der Arbeitsmarktintegration etwa habe in der Schweiz schon immer ein Mix von öffentlichen Institutionen, gemeinnützigen Organisationen und privaten Unternehmen zusammengewirkt. Die Fälle seien vielfältig, die Lösungsansätze müssten es auch sein.
Und in der ganzen Diskussion über die Kosten dürfe man nicht vergessen, dass es darum gehe, Lösungen für die Probleme von Menschen zu finden. Das sei der Kerngedanke des Sozialwesens, wie es sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt habe.