Was bringt einen Jugendanwalt dazu, einem halbwüchsigen Messerstecher Thaibox-Training, eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung und einen Privatlehrer zu ermöglichen? Scheinbar selbstverständlich Monat für Monat 29‘000 Steuer-Franken für einen jungen Mann auszugeben, der in seinem Leben bis dahin vor allem dadurch aufgefallen war, dass er Schwierigkeiten machte? Und das Ganze auch noch völlig ohne Not via Fernsehen vor der ganzen Nation auszubreiten?
Ausgerechnet Hansueli Gürber, der die Zürcher Jugendanwaltschaft jahrelang als Mediensprecher gegen aussen vertreten hatte, konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass all das schwer zu verstehen war. Dass er damit einen «Shitstorm» auslösen könnte, schien ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein, als er meinen Kollegen Hanspeter Bäni vor über einem Jahr mitnahm zu einem Standortgespräch mit «Carlos».
«Tubel», das hörte ich immer wieder, wenn der «Fall Carlos» zum Thema wurde. Der «Tubel» war damals allerdings nicht der plötzlich schweizweit bekannte Jugendstraftäter «Carlos», sondern dieser Gürber. Weil er den Fall – aus schwer nachvollziehbaren Gründen – auf die nationale Agenda gesetzt hatte. Oder weil er ein solches Sondersetting angeordnet hatte. Oder beides.
Hansueli Gürber gefällt es, sich zu erklären
Dann sass mir dieser «Tubel» in einer Pizzeria im Zürcher Kreis 4 gegenüber: Hansueli Gürber höchstpersönlich. Es wurde ein langer Mittag. Denn es gab viele Fragen. Und viele Antworten. Er werde oft für einen «Tubel» gehalten, sagte mir Gürber – er wirkte beinahe amüsiert. Dann gelte es, sich zu erklären, das gefalle ihm. Manchmal daure es zehn Minuten. Manchmal eine halbe Stunde. Und manchmal eine Stunde. Aber am Ende leuchte es jeweils den meisten ein: Dass es nicht so einfach sei, wie es scheine.
Im Rahmen meiner Recherchen landete ich unter anderem bei Marcel Niggli, Fribourger Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie. Und es wurde noch komplizierter. Denn Niggli neigt zu allerlei Differenzierungen. Ihm sei bewusst, dass er damit quer in der Landschaft stehe, sagte er, zumindest in der Medienlandschaft. «Wenn Sie gegenwärtig als Wissenschaftler kommen und etwas erzählen, das nicht in den Kanon von‚ mehr Repression bringt mehr Sicherheit‘ passt, dann sind Sie sofort ein Täterfreund… oder ein Linker…», so Niggli. «Wenn Sie sagen wollen: Es ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint, dann setzen Sie sich Kritik aus, auch unsachlicher, sehr intensiver Kritik. Jeder Wissenschaftler, der das tut, opfert Zeit und Energie. Und was bekommen Sie? Nichts! Gut, vielleicht böse Briefe… Sie können sich praktisch nur unbeliebt machen.»
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Welche Wirkung haben unterschiedliche Sanktionen?
Es entwickelte sich ein spannender Austausch. Etwa zur Frage, welche Wirkungen sich für unterschiedliche Sanktionsarten bei betrunkenen Autofahrern nachweisen lassen. Egal ob Busse, bedingte Freiheitsstrafe oder unbedingte Freiheitsstrafe. Die verschiedenen Sanktionsarten zeigen bei allfällig rückfälligen Blaufahrern faktisch keine feststellbare Wirkung – die Rückfallraten sind praktisch identisch, egal wie hart der jeweilige Kanton sanktioniert.
Niggli legte mündlich nach: «Wir haben einen stabilen kriminologischen Bestand empirischer Erkenntnisse, die uns zeigen, dass weder die Strafart noch die Schärfe der Strafe massgeblichen Einfluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit haben.»
Es verdichtete sich der Eindruck, dass dem «Rätsel Kriminalität» mit einfachen Antworten nicht beizukommen ist, dass es aber gleichzeitig weit weniger geheimnisvoll ist, als es den Anschein hat. Hanspeter Bäni und ich haben uns mit empirisch und kriminalsoziologisch orientierten Strömungen der Kriminologie auseinandergesetzt, und sind bei unseren Recherchen auf Erstaunliches gestossen.