Søren Kierkegaards «Tagebuch des Verführers» (1843) zählt zur Weltliteratur. Es handelt von Johannes, der mit allen Mitteln der Kunst die blutjunge, sittsame Cordelia verführt. Nach vollbrachter Tat lässt er sie fallen.
Dieser Text löste in der Studentin Aurora Prelevic schmerzliche Erinnerungen an sexuelle Gewalt aus. Sie war von der Heftigkeit ihrer Empfindungen selbst überrascht: «Ich war in der Lehrveranstaltung ausser mir», erinnert sich die Studentin der Kulturwissenschaften an der New School for Social Research in New York.
Sie versuchte ihre verwirrenden und beängstigenden Gefühle auszudrücken, doch das regte sie noch mehr auf. «Danach schämte ich mich, ehrlich gesagt. Ich kam mir dumm vor». Wäre diese Reaktion zu vermeiden gewesen? Eine Triggerwarnung hätte vielleicht geholfen, meint die Studentin. Eine Warnung, dass nun ein Text behandelt wird, der potenziell Traumen wiederbelebt.
Vermeiden traumatischer Flashbacks
Triggerwarnungen, wie Aurora Prelevic sie befürwortet, sind eine Erfindung des Internets. Sie tauchten schon vor Jahren in Foren auf, wo Opfer von sexueller Gewalt Erfahrungen austauschten.
Der Begriff «Triggerwarnung» zu Beginn eines Posts dient als Signal an andere Opfer, dass der nun folgende Text explizite Details des Verbrechens beinhalte und bei LeserInnen Flashbacks auslösen könnte
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2012 begannen sich Triggerwarnungen an Universitäten in den USA einzubürgern. Seither zieht der Trend seine Kreise und wird von Professoren sowie Studenten heftig diskutiert.
Professoren fürchten um die Lehre
Von einigen wenigen Universitäten abgesehen liegen Triggerwarnungen – zumindest derzeit noch – im Ermessen des Lehrpersonals.
Einige Studenten drängen mittlerweile nicht mehr nur auf Vorwarnungen, sondern fordern potenziell traumatisierende Inhalte erst gar nicht zur Sprache zu bringen. Professoren fürchten um die Qualität der Lehre.
«Das absurde Ergebnis wäre, dass man durch die Vermeidung extrem heikler Inhalte eigentlich eine gefährliche Situation schafft», erklärt Greg Lukianoff, Direktor der Organisation FIRE (Foundation for Individual Rights in Education). «Wenn beispielsweise Rechtsfragen um sexuelle Gewalt nicht mehr behandelt werden, wird es künftig weniger Juristen geben, die sich auskennen.»
Triggerwarnungen ufern aus
Anfangs waren Triggerwarnungen als Schutz vor Re-Traumatisierung von Opfern sexueller Gewalt gedacht. Doch mittlerweile fordern US-Studenten Warnhinweise vor allem und jedem, was ihren religiösen Glauben ihre politische Überzeugung oder ihr ethisches Empfinden beleidigen könnte.
Davon sind auch Werke der Weltliteratur nicht ausgenommen: William Shakespeares «Der Kaufmann von Venedig» (Antisemitismus), Virginia Woolfs «Mrs.Dalloway» (Selbstmord), F.Scott Fitzgeralds «Der grosse Gatsby» (häusliche Gewalt, Selbstmord).
Kritiker der Triggerwarnungen befürchten, dass das, was zu einem Studium gehört – nämlich kritische Auseinandersetzung mit Inhalten – auf der Strecke bleiben wird.
Daher erregte der Brief der renommierten University of Chicago nun, zu Beginn des Wintersemesters 2016, an die Studienanfänger auch so grosses Aufsehen. Die Universitätsleitung informierte die Neuankömmlinge darüber, dass man weder Triggerwarnungen noch einen sogenannten intellektuell «sicheren» Raum befürworte.
Warnung als Teil der Konversationskultur
Der Schritt der University of Chicago sei ein Signal, so Greg Lukianoff, doch die Debatte werde dennoch nicht so bald enden. Denn: «Viele junge CollegeabsolventInnen geben Triggerwarnungen mittlerweile automatisch, im normalen Gespräch ab.» Wenn Warnhinweise also Teil einer breiteren Konversationskultur sind, werde man sie so schnell nicht wieder loswerden.
Sendung: Kultur Aktuell, 26. September 2016, 17.06 Uhr.