Es begann mit einer Demonstration in Daraa, einer Stadt im Süden Syriens. Daraus wurden Proteste und Streiks, die Regierungstruppen griffen ein. Es gab immer mehr Tote und Verletzte, und die ersten Flüchtlinge überquerten die Grenze nach Jordanien und Libanon. Das war vor fast vier Jahren.
Schockierende Grausamkeit
Inzwischen gibt es Syrien de facto nicht mehr. «Es gibt nur noch Krieg und Opfer», sagt Carla Del Ponte. «Wir lassen zu, dass der Staat zerfällt.» Zu den rivalisierenden Rebellengruppen und jenen von Präsident Asad kamen vor etwa einem Jahr die Söldner des so genannten Islamischen Staats (IS) hinzu. Alle kämpfen gegen alle – die Zahl der Vertriebenen liegt nach Schätzungen des UNHCR bei zehn Millionen, davon leben rund vier Millionen in den umliegenden Ländern.
Mit einigen dieser Flüchtlinge hat Carla Del Ponte als Mitglied der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission gesprochen. Die Grausamkeit der geschilderten Verbrechen hat sie schockiert: «Es wird gefoltert, bevor getötet wird. Und zwar möglichst lange.»
Chemiewaffen auf beiden Seiten?
In Syrien selbst war Del Ponte nicht. «Die Regierung hat mich zwar eingeladen, aber nur als Privatperson», erklärt sie in der Sendung «Sternstunde Philosophie». «Als Mitglied der Untersuchungskommission darf ich nicht einreisen, denn die syrische Regierung erachtet diese als parteiisch und nicht legitim. Ich habe jedoch mit dem syrischen Botschafter in Genf gesprochen. Vielleicht klappt es ja doch noch, bevor unser Mandat im März ausläuft.»
Dürften Ermittler nach Syrien reisen, könnte vielleicht endlich die Frage über den Gebrauch von Chemiewaffen beantwortet werden. Del Ponte: «Wir wissen bis heute nicht, wer solche Waffen eingesetzt hat. Die syrische Regierung sagt, sie seien es nicht gewesen. Also bitteschön, sage ich: ‹Kommt mit Beweisen!› Sehr wahrscheinlich haben beide Seiten Chemiewaffen eingesetzt.»
Russland und China verhindern Sondertribunal
Der Vorwurf, die Untersuchungskommission sei nicht neutral, kommt von der syrischen Regierung, aber auch von westlichen Staaten. Del Ponte lässt ihn nicht gelten: «Wir führen Listen mit Namen von Personen, die Kriegsverbrechen begangen haben könnten, und zwar von allen Seiten. Aber so lange wir kein Mandat der internationalen Gemeinschaft haben, sind uns die Hände gebunden.»
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Dieses Mandat müsste der UN-Sicherheitsrat erteilen. Doch bisher haben Russland und auch China von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht und so die Schaffung eines Sondertribunals zu Syrien verhindert.
Politik versus Justiz
Dass Russland als Verbündeter des Regimes von Asad vom Veto Gebrauch macht, sei ärgerlich, aber legitim, sagt Del Ponte. «Die Oppositionellen haben schliesslich auch Verbündete: die USA, Saudi-Arabien und Katar zum Beispiel.» Und dann gäbe es noch die Türkei. Das Land sei nicht nur für Flüchtlinge offen – sondern auch für Söldner, die via Türkei nach Syrien reisen.
Der Syrienkonflikt ist stets komplexer geworden. Und die Interessen der politischen Akteure durchdringen ihn. Wie behält man da den Überblick? Del Ponte: «Ich bin weder Politikerin noch Ökonomin. Ich bin Juristin und als solche interessiert mich das Gesetz.» Man brauche die Politiker zwar: «Sie müssen uns einladen und die Möglichkeit geben, ermitteln zu können. Doch wenn wir für unsere Ermittlungen die Tür schliessen, dann muss die Politik draussen blieben.»