Der Schmerz sitzt in der Seele und ist unerträglich. Fachleute sprechen von «mental pain», einem qualvollen Schmerz, der die meisten suizidalen Menschen plagt. Er ist so stark, dass er die Angst vor dem Tod in den Schatten stellt. Hinterlassene Abschiedsbriefe und Aussagen von Überlebenden zeugen davon.
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Dieser psychische Ausnahmezustand zeigt sich auch im Gehirn. Suizidforscher Konrad Michel und seine Mitarbeiter an der psychiatrischen Universitätsklinik Bern haben festgestellt, dass das Gehirn in diesem Zustand grösster Verzweiflung die Kontrolle über sich selbst verliert: «Ich erkläre meinen Patienten jeweils, dass das Vernunfthirn ausgeschaltet ist.»
Der Blick ins Gehirn hilft der Forschung
Neue und verbesserte bildgebende Verfahren lassen den Blick ins Hirn zu. Damit verstehen Forscher immer besser, warum seelischer Schmerz und der Wunsch, diesen auszulöschen, Menschen in den Tod treibt. Bei hochsuizidalen Menschen sind die Gefühls-Areale des Gehirns extrem aktiviert – während das Frontalhirn praktisch ausgeschaltet ist. Dieses Hirnareal zügelt normalerweise unsere emotionalen Impulse und schützt uns vor unüberlegtem Handeln.
Gerade junge Männer, deren Gehirn weniger reif ist als das gleichaltriger Frauen, laufen besonders Gefahr, unter extremer psychischer Belastung in einen Zustand dieser neuronaler Desorganisation zu geraten. In ihrer Altersgruppe ist Suizid nach den Unfällen denn auch die häufigste Todesursache.
Wie sich dieser Zustand anfühlt, beschreiben Patienten, die einen Selbsttötungsversuch hinter sich haben immer wieder sehr eindrücklich. Oft mit ähnlichen Worten, sagt der Berner Suizidforscher Konrad Michel: «Fast alle Patienten berichten, sie seien vor ihrem Suizidversuch in einem tranceähnlichen Zustand gewesen. Sie hätten sich nicht gespürt und keine Angst mehr gehabt. Die Suizidhandlung sei wie automatisch abgelaufen.»
Ist Suizid eine freie Entscheidung?
Einmal auf den Pfad Richtung Suizid abgebogen, scheint es keine Abzweigungen mehr zu geben. Als wären die Patienten in einen engen Schacht geraten, der nur eine Richtung zulässt – jene hin zum Tod. Das Erwachen kommt oft spät: «Eindrücklich ist zum Beispiel, was Menschen, die den Sprung von einer Brücke überlebt haben, erzählen. Wiederholt haben mir Patienten geschildert, dass sie im Moment, wo sie gesprungen sind, plötzlich mit Schrecken realisiert haben, was sie da tun.»
Wenn keine Umkehr mehr möglich ist, scheint das Frontalhirn, das für die Impulskontrolle zuständig ist, wieder zu erwachen. Konrad Michel und andere Suizidforscher wehren sich deshalb gegen die Idee, Suizid sei eine freie Entscheidung: «Diese Ansicht ist in der Schweiz – im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern – eine Grundhaltung. Aber eine Suizidhandlung ist nichts Überlegtes und somit auch kein Akt des freien Willens. Suizid ist ein Gesundheitsproblem.» Diesen Schluss ziehen Suizidforscher wie Konrad Michel aus Patienten-Gesprächen und Gehirn-Bildern.
Therapie nach Suizidversuch
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Für Michel steht deshalb ausser Frage, dass suizidale Patientinnen und Patienten eine spezifische Therapie brauchen. Das gilt ganz besonders auch für Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben. Denn ein Suizidversuch in der Vorgeschichte ist der grösste Risikofaktor für einen späteren Suizid.
«Nach einem Suizidversuch darf man nicht zum Alltag übergehen, selbst wenn dieser einen harmlosen Eindruck machte», sagt Michel. «Wir haben Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich hatten, aufgefordert, an die Zeit unmittelbar vor dem Versuch zu denken. Schon bei der blossen Erinnerung hat sich das Aktivierungsmuster in ihrem Gehirn verändert: Das Frontalhirn fuhr runter, die emotionalen Zentren übernahmen das Zepter.»
Patienten können Kontrolle zurückgewinnen
Das Reaktionsmuster «tiefe Verzweiflung – suizidale Gedanken – suizidale Handlung» gräbt sich mit jedem Versuch tiefer ins Gehirn ein und wird mit jeder Krise schneller ausgelöst. Suizidalität sollte deshalb immer speziell behandelt werden.
Patienten können nämlich durchaus Kontrolle zurückgewinnen. Vorausgesetzt, sie erkennen die Warnsignale und können sich in einer Krise rechtzeitig Hilfe holen. Doch bisher bietet die psychiatrische Universitätsklinik Bern als einzige Institution in der Schweiz eine entsprechende Spezialsprechstunde an.