Markiyan Kamyschs Vater starb vor 13 Jahren an den Folgen eines Tschernobyl-Einsatzes. Er selbst wollte eigentlich Geschichte studieren, verliess aber die Universität und wurde «Stalker». So nennt man seit dem gleichnamigen Filmklassiker von Andrej Tarkowski aus dem Jahr 1978 Menschen, die sich illegal in eine Sperrzone wagen, in der rätselhafte Dinge geschehen.
Eine andere Realität
Seit fünf Jahren wandert Markiyan Kamysch immer wieder in das seit 1986 gesperrte, 2500 Quadratkilometer grosse Gebiet um Tschernobyl. Über seine Erfahrungen berichtet er im Buch «Spaziergang in die Zone». «Tschernobyl wird kaum literarisch verarbeitet. Alle Bücher beschreiben die Zone als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Aber die Realität ist anders», sagt Kamysch. «Mein Buch betrachtet weniger die Vergangenheit, sondern die Gegenwart.»
Kamysch ist 28 Jahre alt. Obwohl er die Explosion des Atomkraftwerkes in Tschernobyl nicht selbst erlebte, wurde sein ganzes Leben dadurch geprägt. Er sei ein Kind Tschernobyls, sagt Markiyan, denn sein Vater war einer der sogenannten Liquidatoren. Wie viele andere wurde sein Vater, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Kernforschung in Kiew arbeitete, nach der Katastrophe abkommandiert, die Trümmer des havarierten vierten Kraftwerksblock zu beseitigen. «Ich erinnere mich bis heute, wie er mit seinen Freunden bei uns zu Hause darüber sprach. Eines der ersten Worte, das ich als Kind hörte, war das Wort Tschernobyl», erzählt Kamysch.
Sinnsuche im Sperrgebiet
Tatsächlich ist die Sperrzone, die Kamysch selbst «den exotischsten Ort der Erde» nennt, in seinem Buch alles andere als ein deprimierender Landstrich. Er beschreibt die Region eher wie einen Abenteuerspielplatz, der kaum einen Katzensprung entfernt ist. Eine Wildnis voller Freiheit, die Raum zur Meditation und zum Nachdenken lässt. Obwohl das Buch als Teil einer Reihe unter der Rubrik «Wandern» erscheint, ist es kein gewöhnlicher Reiseführer und kein Tagebuch. Sein Spaziergang schildere keine Szenarien, sondern führe in die Tiefe, sagt Kamysch. Es ist eine melancholische Draufsicht, begleitet von Schimpfworten, die er locker einstreut. Das Buch zeigt aber auch seine auf dem Weg durch Müdigkeit, Alkohol und Zigaretten vernebelte Wahrnehmung.
Nachdem er selbst über 60 Mal in die Zone gegangen ist, träumt Kamysch davon, wie die Sperrzone künftig als Unterhaltungspark vermarktet wird und Profit abwirft: «Wenn meine Bekannten aus Deutschland, aus den Niederlanden oder aus Polen in die Ukraine kommen, interessieren sie sich nicht für unsere Kirchen oder Klöster. Sie wollen etwas Einzigartiges sehen.» Vielleicht wäre es ja möglich, die Sperrzone in eine Art riesiges «Disneyland» umzuwandeln. Oder in eine Mischung aus Gedenkpark und Touristenattraktion. Der illegale Tourismus in das Sperrgebiet existiere seit Jahren und werde weiter bestehen, unabhängig von seinem Buch und seinen Aufrufen dafür oder dagegen, sagt der junge Autor. «Aber wenn Sie sich wie ein Mensch fühlen wollen, der die Apokalypse erlebt hat, gehen Sie mal in die Zone.»
«Literatur der realen Erfahrungen»
Inzwischen ist das Buch auch in französischer Übersetzung unter dem Titel «La Zone» erschienen. Das Erfolgsrezept, wie ukrainische Literatur den internationalen Markt für sich erobern kann, ist für Kamysch klar: Gefragt seien nicht ausgedachte Geschichten, sondern eine «Literatur der realen Erfahrungen». Trotz dieser Einsicht hat Markiyan Kamysch sein nächstes Tschernobyl Abenteuer in der Fiktion angesiedelt. In «Kiew 86» beschreibt er, wie die ukrainische Hauptstadt nach der Havarie am Atomkraftwerk vollkommen evakuiert werden muss. Erst 30 Jahre später wagt ein Stalker wie er, japanische Touristen wieder dorthin zu führen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 26.4.2016, 07.20 Uhr