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Mann mit Flagge und Satire-Magazin an Demo.
Legende: Die blanke Brutalität des Anschlags auf Charlie Hebdo und die folgenden Geschehnisse haben ganz Frankreich schockiert. FLICkR/Valentina Calà

Gesellschaft & Religion «Frankreich hat seine Dekolonialisierung verpasst»

Der Anschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» wird von manchen als «Frankreichs 9/11» verstanden. Sie treffen das «Land der Aufklärung» ins Mark. In einem Kurzinterview reflektiert der in Paris lebende Westschweizer Schriftsteller und Verleger Bernard Comment die schrecklichen Ereignisse.

Herr Comment, wie nehmen Sie die Stimmung in Paris wahr ?

Bernard Comment : Es gibt einen grossen Unterschied zwischen dem medialen Lärm und der Realität im Pariser Alltag. Gewiss, man hört viele Sirenen von Polizei, Feuerwehr und Ambulanzen und ich würde sagen, dass sie seit Mittwoch anders klingen. Man darf aber nicht vergessen, dass Paris leider Tragödien gewöhnt ist. Es hat sie in den vergangenen 30, 40 Jahren immer wieder gegeben. Der Alltag gewinnt rasch wieder die Oberhand.

Die blanke Brutalität des Anschlags auf «Charlie Hebdo» und die folgenden Geschehnisse haben aber schockiert. Diesem Anschlag liegt die übliche Feigheit des Terrorismus zugrunde. Dazu kommen ein Wahn zu Töten und eine Blutrünstigkeit, die Schrecken und Abscheu auslösen.

Bernard Comment

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Der in Porrentruy (JU) aufgewachsene Schriftsteller Bernard Comment (geb. 1960) lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Paris. 2011 wurde er u.a. mit dem Prix Goncourt de la Nouvelle ausgezeichnet. Im Frühjahr 2015 wird er u.a. eine Gastprofessor für französische Literatur und Kultur an der ETH Zürich innehaben.

Die spontanen Kundgebungen hatten etwas sehr Schönes und Würdiges. Sie setzen ein Zeichen gegen den zerstörerischen Hass, gegen den stumpfsinnigen Fundamentalismus und diesen grenzenlosen Wahnsinn, welchem Menschen verfallen, wenn sie sich im Besitz der religiösen Wahrheit wähnen, sich als Hüter des Heiligen sehen.

Die politische Landschaft ist geeint, oder zumindest beinahe, und es herrscht nationale Einheit, zumindest an der Oberfläche. Aber an den Rändern der Städte und in den Vorstädten ist die Situation viel komplexer. Die muslimischen Glaubensgemeinschaften haben starke Stellungnahmen abgegeben, sie haben die Anschläge alle verurteilt. Aber ich glaube nicht, dass sich die muslimische Gemeinschaft so im Klaren darüber ist – und das mag ein Schlüssel des Problems sein – dass sie das Problem anpacken und von innen her Gegensteuer geben muss.

Hier in der Schweiz nehmen wir es so wahr, als würden in Frankreich soziale Spannungen zunehmend von religiösen Spannungen überlagert. Wie sehen Sie das?

Frankreich hat die Dekolonialisierung und die Aufarbeitung der Kolonialisierung verpasst. Das Land hat einen Paternalismus beibehalten, der zu Recht von den Kindern der zweiten und dritten Generation der Zuwanderer nicht mehr akzeptiert wird. Der durchschnittliche Franzose hat in seinem Innersten die Forderung nach Gleichheit dieser Jungen nicht akzeptiert, sondern darin eine Arroganz gesehen. Leider sind die Vorstellungen des «kleinen Negerleins» oder des «Kameltreibers» nicht ganz verschwunden.

Fügt man diesem Umstand die soziale Hoffnungslosigkeit bei, hat man einen explosiven Cocktail. Denn, was kann sich ein junger Mensch aus den Vororten – mit afrikanischer oder nord-afrikanischer Herkunft – in einer französischen Gesellschaft erhoffen, in der die Arbeitslosigkeit hoch, die Anstellungen selten, die Gehälter läppisch und die Lebensumstände generell prekär sind? Nicht viel. Es gilt eine schreckliche Negativbilanz einzugestehen. Zusammenleben bedeutet, jeder und jedem Einzelnen Hoffnung zu bieten.

Können Sie Beispiele dafür nennen?

Ich möchte zwei Beispiele nennen. Ich arbeite in einem grossen Verlagshaus. In den Verlagsteams gibt es nur Weisse, keine einzige Person einer anderen Hautfarbe. Und es gibt praktisch keine einzige Person im gesamten französischen Verlagswesen, die nicht weiss ist – das ist in den USA völlig anders. Das bedeutet, dass eine der grossen Quellen der heutigen kulturellen und geistigen Produktion, des «Imaginaire contemporain», völlig von der Realität der Durchmischung Frankreichs und seinen Städten abgekoppelt ist.

Ein anderes Beispiel ist der Fussball: Wenn Sie in einem Vorort von Paris ein Spiel auf Club-Ebene schauen gehen, sind 95 Prozent der Kinder Schwarze oder «Beurs», also Kinder maghrebinischer Franzosen. Und dann schauen sie sich die Zuammensetzung der Leitungsposten der Fédération française du Football an, der französischen Fussballföderation an: 100 Prozent Weisse! Wie soll das funktionieren?

Stimmt der Eindruck, dass es in Frankreich salonfähig geworden ist, einem neuen Nationalismus nachzuhängen?

Das intellektuelle Niveau dieser Pseudo-Intellektuellen betrübt einem in seinem Mittelmass. Houellebecq, Finkielkraut und, schlimmer noch, Zemmour wiederholen nur die immer gleichen, alten Stereotypen von Invasion und Untergang. Es sind die immer gleichen Ängste, die heraufbeschwört werden, die immer gleichen vermeintlich visionären, falschen Geister. Aber weil die Unkultur sehr viel Terrain gewonnen hat, die Redaktionen und Multiplikatoren der öffentlichen Meinung keinen soliden Sockel mehr haben an historischem oder philosophischem Wissen, können diese Pseudo-Denker den Schein wahren. Das Problem sind nicht diese einzelnen Verrückten, sondern der Widerhall, den man ihnen schenkt.

Welche Bedeutung hat in Frankreich die Meinungsfreiheit im Unterschied zur Schweiz?

Frankreich hat eine alte Tradition der Meinungsäusserungsfreiheit, die hart aber nachhaltig von Voltaire und anderen Pfeilern der Aufklärung erkämpft wurde. Und vor ihnen bereits von Molière und den Hofnarren. Die Grundlage dieser Freiheit ist, dass man über alles Lachen kann, wenn man damit nicht den Hass des anderen schürt. Man muss über alles Lachen dürfen können.

Eine gesunde Gesellschaft muss fähig sein, auch zu sich selber, zu ihrer Art, Dinge zu sehen und zu tun, Distanz einnehmen zu können. Sie muss Überzeugungen, die eigenen Mythologien hinterfragen wollen: Nichts ist so stark wie das Lachen, um Sicherheiten ins Wanken zu bringen. «Charlie Hebdo» steht in dieser Tradition und ebenso der «Canard Enchainé». Man kann das übertrieben finden, doch diese Übertreibung ist gesund und unabdingbar.

Das Kurzinterview wurde am Freitag schriftlich geführt und aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.

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