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Gesellschaft & Religion Neue Einsichten zum visionären Vordenker Theodor Herzl

Er war eine der einflussreichsten Gestalten des 20. Jahrhunderts: der Wiener Feuilleton-Journalist Theodor Herzl, der posthum zum Stammvater des Staates Israel werden sollte. Jetzt beschäftigen sich zwei neue Bücher mit dem Erbe des prominenten Zionisten.

Was hat man den Mann nicht verspottet – als weltfremden Sonderling und verschrobenen Phantasten, der die verfemten, verachteten, verhassten Juden Europas ins Land ihrer Väter heimführen wollte, nach Eretz Israel, ins Heilige Land, damals nicht mehr als ein verwahrloster und deprimierend rückständiger Landstrich im Grossreich des Sultans von Konstantinopel.

Neue Einsichten

Buchhinweise

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Shlomo Avineri: «Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates», aus dem Englischen von Eva-Maria Thimme, Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, 2016.

Doron Rabinovici und Natan Sznaider: «Herzl reloaded», Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, 2016.

In seiner ebenso profunden wie gut lesbaren Herzl-Biographie zeigt der in Jerusalem lehrende Historiker Shlomo Avineri, wie Theodor Herzl als politischer und diplomatischer Selfmade-Man zu einem der führenden Politiker Europas avancierte. Der Redakteur der «Neuen Freien Presse» in Wien wurde ein charismatischer Organisator, der mit Kaisern, Grosswesiren und den mächtigsten Ministern aus verschiedenen Ländern über die Zukunft der europäischen Judenheit verhandelte.

Avineri, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, setzt in seiner Biographie andere Akzente als frühere Herzl-Exegeten. Die Dreyfus-Affäre in Frankreich sei keineswegs der Hauptgrund gewesen, wie häufig behauptet, der Herzl zum Zionisten werden liess, schreibt Avineri. Denn als Paris-Korrespondent der «Neuen Freien Presse» habe Herzl nur den Beginn der Dreyfus-Affäre miterlebt, die sich über insgesamt zwölf Jahre hingezogen hat.

Der Antisemitismus kam von Intellektuellen

Viel wichtiger seien die Erfahrungen gewesen, die er als Feuilletonchef der «Neuen Freien Presse» mit dem rabiaten Judenhass deutscher und österreichischer Antisemiten gemacht habe. Die vielgelesenen Schriften des Berliner Rassenantisemiten Eugen Dühring seien für Herzls Hinwendung zum Zionismus ebenso massgeblich gewesen wie die sogenannten «Arierparagraphen», mit denen akademische Burschenschaften in Wien und andernorts jüdische Mitglieder aus ihren Reihen hinausexpediert haben.

An einem langen Tisch sitzen Männer, dazwischen steht David Ben-Gurion, der erste Premierminister. Über ihm ein Bild von Theodor Herzl.
Legende: Die Gründung des Staates Israel unter dem Porträt von Theodor Herzl, 14. Mai 1948. Keystone

«Der rassistische Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts kam nicht von ungebildeten Leuten aus der Unterschicht», schreibt Avineri: «Von Anfang an handelte es sich dabei um eine intellektuelle Bewegung, deren Grundsätze auf den neuesten Erkenntnissen von Biologie und Anthropologie beruhten.»

Ein Staat mit vollständiger Gleichbereichtigung

1895, als Herzl sich an die Niederschrift seines «Judenstaats» machte, galt der Antisemitismus als respektable und weithin geachtete Weltanschauung, nicht nur in Arbeiterwohnküchen und Kleinbürgerstuben, sondern auch in bürgerlichen und aristokratischen Milieus. Theodor Herzl, dem pragmatischen Visionär, war der Rassen-Antisemitismus des Fin de siécle zu Recht unheimlich.

In seinen Schriften entwarf der bekennende Liberale das Konzept eines jüdischen Staates, der nach modernen, säkularen Grundsätzen verfasst sein sollte: vollständige Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, vollständige Gleichberechtigung zwischen Juden, Arabern und Angehörigen anderer Ethnien, ein produktives Nebeneinander von kapitalistischen und sozialistisch-genossenschaftlichen Ansätzen im Wirtschaftsleben.

Die jüdische Religion sollte im Judenstaat eine wichtige, aber keine führende Rolle spielen. «Der Glaube hält uns zusammen – die Wissenschaft macht uns frei», hielt der Agnostiker Herzl fest: «Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden.»

«Herzl reloaded»

Es ist bekanntlich anders, ganz anders, gekommen. Die Juden haben das, was sie in Palästina gesucht haben – Sicherheit – nur unter Vorbehalt gefunden. In ihrem Buch «Herzl reloaded» untersuchen der Schriftsteller Doron Rabinovici und der Soziologe Natan Sznaider, was aus den Herzlschen Visionen geworden ist.

Einerseits wäre der Stammvater des Zionismus heute ausser sich vor Begeisterung, wenn er Tel Aviv oder Haifa besuchen würde, meint Doron Rabinovici: «Das sind vibrierende, interessante, kulturell und intellektuell aufregende Städte.» Andererseits wäre Herzl aber auch entsetzt über die Sicherheitssituation in Israel und im Nahen Osten insgesamt.

Audio
Günter Kaindlstorfer zu den neuen Publikationen zu Theodor Herzl
aus Kultur kompakt vom 07.01.2016.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 35 Sekunden.

Das Zusammenleben wird schwieriger

Rabinovici und Sznaider diskutieren in ihrem Buch von gegensätzlichen Positionen aus, wie die Bewohner des Staates Israel in Zukunft in Frieden miteinander leben könnten. Natan Sznaider, Soziologe an der Akademischen Hochschule Tel Aviv, übernimmt dabei den eher pessimistischen Part: Er sieht ein dramatisches Erstarken der nationalistischen und religiösen Rechten in Israel.

Das habe zur Folge, dass sich das Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern in Zukunft eher schwieriger als leichter gestalten werde. «Jeder, der glaubt, dass Israel heute nach den Standards einer westlichen liberalen Demokratie gemessen werden kann, irrt sich», hält Sznaider fest.

Düstere Prognosen

Millionen jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, aus dem Maghreb, dem Jemen, dem Iran und dem Irak hätten aus dem modernen Israel eine illiberalere Gesellschaft gemacht, als Theodor Herzl sich in seinen schlimmsten Befürchtungen hätte vorstellen können.

Insofern gibt Sznaider auch einer Zweistaaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt keinerlei Chancen mehr. «Die Zweistaatenlösung ist tot», diagnostiziert er, «aber auch die Einstaatenlösung ist ein Horrorszenarium. Sollten wir nicht beginnen, kreativ über die Zukunft nachzudenken?»

Just das tun Natan Sznaider und Doron Rabinovici in ihrem Buch. Die Ergebnisse, zu denen die beiden kommen, sind nicht gerade ermutigend. Es sieht so aus, als ob sich die Menschen im Nahen Osten auf viele weitere Jahre voller Terror, Gewalt und Krieg einstellen müssen. Theodor Herzl – der visionäre Humanist – täte sich schwer damit.

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