Pünktlich zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels erscheinen zwei Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten. «Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur» ist ein handliches Buch mit geheimnisvoll grauschimmerndem Einband. Zwischen den weichen Buchdeckeln gibt’s viel Text und einige Schwarz-Weiss-Abbildungen.
«Der Gotthard/Il Gottardo» dagegen ist ein Wälzer im Querformat, so dick und prall wie ein Musterbuch eines Teppichhändlers. Im Buchinnern entfaltet sich auf fast tausend Seiten ein umwerfender Reigen an Plänen, Karten, Fotografien, Zeichnungen, Abbildungen von Briefmarken und Lokomotiven, Fotografien von Baustellen. Eine eigentliche Gotthard-Enzyklopädie.
Mythen und Fantasien
So unterschiedlich die Bücher daher kommen, so ähnlich sind sie in ihrer Absicht. Beide nähern sich mit grosser kulturwissenschaftlicher Neugier dem Gotthard, diesem Berg, der eigentlich ein Pass ist.
Für «Gotthardfantasien» hat der Kulturwissenschaftler Boris Previsic Historiker, Volkskundler, Schriftstellerinnen und Ingenieure versammelt und sie beauftragt, die Mythen und Fantasien, die dem Gotthard entspringen, zu sezieren und zu analysieren.
Landschaft aus künstlich-natürlichen Formen
Der Wälzer «Der Gotthard/Il Gottardo» ist das Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojekts unter der Leitung der Architekten Marianne Burkhalter und Christian Sumi.
Die beiden unterteilen ihr opulentes Buch in die drei Kapitel: Landschaft, Mythen und Technologie. Sie legen eindrücklich dar, wie am Gotthard eine Landschaft aus künstlich-natürlichen Formen entstanden ist und wie die alte Bergstrecke diese Landschaft mit ihren sichtbaren Anlagen wie den Kehrtunneln prägt.
Für die Bahnreisenden fällt mit der Inbetriebnahme des Basistunnels der Blick auf die Landschaft weg. Es bleiben die Einfahrten in die Tunnelportale in Faido und Erstfeld und umgekehrt. «Der Gotthard/Il Gottardo» ist ein Lesebuch, in dem man alles über den Gotthard findet, von der Briefmarke zum Design der stromlinienförmigen Lokomotiven.
Der Gotthard als alpines «Ellis Island»
Boris Previsic und sein Autorenteam wiederum beschreiben, wie der Gotthard in der Zwischenkriegszeit zum eigentlichen Staatsmythos avancierte und wie sich die zivile Durchlässigkeit in eine militärische Undurchlässigkeit verwandelte.
Sie zeigen, wie der Gotthard Schriftsteller wie Hermann Burger, Friedrich Dürrenmatt oder Gertrud Leutenegger inspirierte. Und sie werfen die Frage auf, ob der Gotthard nicht als Erinnerungsort, als alpines «Ellis Island», genutzt werden könnte, da der erste Gotthard-Eisenbahntunnel zum grössten Teil von Immigranten erbaut wurde und sich die Schweiz in der damaligen Periode vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland wandelte.
Begeistert und beglückt gibt man die beiden Bücher weiter – verbunden mit der Bitte, dass man sie unbedingt wieder zurück haben will, um erneut darin zu lesen.