In vielen Grossstädten, in den Slums der Entwicklungs- und Schwellenländer, entstehen neue kleine und grosse Kirchen mit pfingstlicher Ausrichtung. Die Grosskirchen der Bewegung werden wegen der schieren Masse von Gläubigen «Megachurches» genannt. Der Begriff «Pfingstkirche» verweist auf das christliche Pfingstfest, denn der Heilige Geist ist in dieser Bewegung allgegenwärtig. Angehörige von Pfingstkirchen sind bekannt für Wunderheilungen, für das Reden in Zungen; in ihren Predigten und Gottesdiensten spielt der Glaube an Dämonen und Teufel eine gewichtige Rolle.
Explosionsartiges Wachstum
Geschätzte 600 Millionen Menschen fasst das sogenannte neue Christentum heute. Für das explosionsartige Wachstum der Bewegung suchen renommierte Soziologen wie der US-Amerikaner Peter L. Berger nach Erklärungen.
Pfingstkirchen seien hochmodern, sagt Berger. Es sei die einzige wichtige religiöse Bewegung, in welcher der Glaube auf einer individuellen Entscheidung beruhe. Man wird nicht in diese Gemeinschaft hinein geboren, sondern muss sich bewusst für sie entscheiden und konvertieren.
Politische und soziale Kraft
Peter L. Berger beobachtet das Phänomen seit längerer Zeit. Wie viele andere lehnt er die konservative Grundhaltung der Pfingstkirchen ab, die sich gegen Verhütung, Abtreibung und Homosexualität richtet. Aber akademische und intellektuelle Kreise im Westen hätten der Bewegung viel zu wenig Beachtung geschenkt, weil sie die Pfingstkirche nicht mochten und davon ausgingen, dass die Religion weltweit im Verschwinden begriffen sei. Diese akademischen und intellektuellen Kreise hätten die politische und soziale Kraft dieser Bewegung unterschätzt.
Für Lattitia, eine Frau im Slum von Accra in Ghana, hat sich die Konversion schon gelohnt. Sie und ihre Familie haben sich einer kleinen Pfingstgemeinde angeschlossen. Dann hat ihr Mann aufgehört zu trinken, weil das die Religion verbietet. Seither hat sie mehr Geld für ihre Kinder zur Verfügung und kann ein kleines Geschäft aufbauen. Eine Emanzipationsgeschichte.
Spass und Spiritualität
Der Filmautor Andrea Müller hat für seine Reportage «Kreuzzug – Das neue Christentum» zahlreiche Pfingstgemeinden besucht. Dabei hat Müller auch Lattitia in Accra getroffen. Er hat während der Dreharbeiten viele solcher Geschichten gehört. Als Atheist musste er seine Vorurteile gegenüber evangelikalen Freikirchen (Stichwort Sekten, «Stündeler» usw.) revidieren, auch wenn er ihr konservatives Gedankengut weiterhin ablehnt.
In Brasilien, Ghana, im Niger und in der Ukraine traf er auf vitale Grosskirchen, die eine enorme Ausstrahlungskraft besitzen. Er besuchte Kirchen, die den Gläubigen über das Spirituelle hinaus Spass, soziale Kontakte, Zusammenhalt und Unterstützung boten.
Beispiel Brasilien
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Europa seien sehr gross, sagt Andreas Müller. Es gebe keine zentrale Organisation, die diese Kirchen untereinander koordiniere. Und von den Impulsen ihrer geistigen Väter in den USA hätten sich die meisten Pfingstkirchen dieser Länder längst emanzipiert.
Besonders irritiert hat Müller, dass der Einfluss der Pfingstbewegung in vielen Armenvierteln des Südens zu einer gewissen Verbesserung der Lage und zur Bildung einer Mittelschicht führt. Das zeige sich heute in Brasilien.
Armutsviertel können profitieren
Was der Filmautor schildert, hat mit dem umfassenden Angebot zu tun, bestätigt der Religionssoziologe Peter L. Berger: «Die Pfingstkirchen bieten ein Paket von Glaubensinhalten und Praktiken an, das enorm attraktiv ist für Menschen in Armutsvierteln ohne soziale Unterstützung.» Die Pfingstkirchen kombinierten spirituelle Angebote mit einem Moralcode, der es ihnen ermögliche, sich aus der Armut zu befreien.
Am meisten überrascht hat Andrea Müller, dass er während seiner Reise den Menschen dieser Bewegung nahe gekommen ist. Er sei auf bornierte, enge Sektierer eingestellt gewesen. Stattdessen habe er offene Menschen angetroffen, die seine Skepsis akzeptierten.