Abu Nabil macht die blaue Trainingsjacke auf und lockert die Bandage, die straff um seinen Bauch gewickelt ist. Stück für Stück kommen runde Narben zum Vorschein. Fünf insgesamt. Abu Nabil greift seine Bauchdecke mit beiden Händen, sie ist weich wie Schaumstoff. «Hier haben mich die Kugeln getroffen. Und eine hier.» Abu Nabil zeigt auf seinen Kiefer. Es sind Spuren des Krieges, die er aus Syrien mitgebracht hat. Der Krieg hat ihn und seine 17-köpfige Familie nach Ägypten getrieben.
Alexandria als Startpunkt für Bootsflüchtlinge
Nun lebt Abu Nabil in Alexandria, im Stadtteil «6. Oktober». Die Nachbarn, die Händler – hier sind fast alle aus Syrien. 85'000, so die Schätzungen, leben in der Hafenstadt.
Die Zahl schwankt stark, denn die meisten sind nur auf der Durchreise, erzählt Mohammad El Kashef. Er arbeitet für die Nichtregierungsorganisation «Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte». Von seinem Büro aus kann man das Mittelmeer riechen. «Für die meisten ist das der einzige Weg, um nach Europa zu kommen.» Seit in Libyen Bürgerkrieg herrscht, sind die Strände von Alexandria zum meinst genutzten Startpunkt für Bootsflüchtlinge geworden.
Regelrechte Hetzjagd auf Syrer
In Ägypten bleiben will eigentlich niemand, erzählt El Kashef. «Am Anfang des Krieges haben wir die Syrer als Araber willkommen geheissen.» Vor allem der islamistische Präsident Mohammad Mursi habe den Syrern die Einreise leicht gemacht. Doch als Mursi im Sommer 2013 vom Militär abgesetzt wurde, begann die Hetzjagd. «Plötzlich haben die Syrer nicht nur Probleme mit der Polizei und den Behörden bekommen. Auch der einfache Ägypter auf der Strasse war der Meinung, er müsse gegen sie vorgehen.»
Abu Nabil lässt seine Töchter seitdem nicht mehr zu Schule gehen: «Die ägyptischen Jungs benehmen sich wie Tiere.» Wenn die Mädchen Prüfungen haben, begleitet er sie. Wenn möglich, kauft er die Zeugnisse einfach. Doch das geht nicht immer. Das Geld ist knapp. Einst war Abu Nabil ein wohlhabender Mann. Doch das war vor dem Krieg. Jetzt ist er vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen abhängig. 160 Pfund, rund 20 Schweizer Franken, bekommt jedes Familienmitglied im Monat. Das reicht für die Miete und das Essen. Einen Teil versucht die Familie zu sparen, für die «Fahrkarten», wie sie es nennen.
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2500 Dollar kostet eine «Fahrkarte»
Erst vor ein paar Wochen sind Abu Nabils Frau und zwei seiner Töchter in ein Boot Richtung Europa gestiegen. 2500 Dollar haben sie pro Platz gezahlt. Das ist deutlich mehr, als Schlepper zum Beispiel in Libyen nehmen. Die Überfahrt von Alexandria nach Italien dauert etwa doppelt so lange.
Mit jedem Tag auf dem Meer steigt das Risiko zu ertrinken. Als dann Mitte April die Nachricht kam, dass ein Boot mit 800 Flüchtlingen an Bord gesunken ist, waren sich alle sicher, dass die drei Frauen es nicht geschafft haben. Der erlösende Anruf kam erst sieben Tage später: «Gott sei Dank, sie haben Italien erreicht.»
Zusammenarbeit mit der EU
Insgesamt sind in Ägypten fast 300'000 Flüchtlinge registriert – Syrer, Sudanesen, Somalier. Ähnlich wie in Europa sind auch hier Einwohner und Behörden überfordert mit dem Menschenansturm. Trotzdem setzt die EU auf die Zusammenarbeit mit Ägypten, wenn es darum geht, der Flüchtlingsströme Herr zu werden. Ein Vorschlag sieht vor, die Flüchtlinge bereits in Ägypten zu registrieren und zu überprüfen. Wer nicht ins «Aufnahmeraster» der EU passt, muss in Ägypten bleiben oder wird im schlimmsten Fall in sein Heimatland zurückgeschickt.
Abu Nabil hofft, dass er dann schon lange mit seiner Familie in Deutschland ist. Es ist seine grösste Angst, dass er in Alexandria hängen bleibt. Oder dass er zurück nach Damaskus muss. Das, so ist er überzeugt, wäre sein sicherer Tod.