Die nordnorwegische Hafenstadt Tromsø ist die grösste Siedlung des nördlichen Polarkreises. Der Golfstrom macht die Temperaturen milder als im skandinavischen Landesinneren, die renommierte Universität sorgt für jugendliche Weltoffenheit. Das und die unmittelbare Nähe zur urtümlichen Natur und Landschaft Nordnorwegens wirken wie ein Magnet: Die Stadt wächst, immer mehr Menschen ziehen zu, Touristen besuchen die Gegend. «Paris des Nordens» wird Tromsø genannt, «Stadt der Lichter und der Leichtigkeit».
Die Stadt brummt, das Hirn schläft
Ich will erkunden, wie die Menschen hier leben bei diesen extremen Lichtverhältnissen. Um neun Uhr morgens ist es noch stockdunkel in Tromsø. Der Arbeitstag hat zwar längst begonnen, im Hafen wird das riesige Linienschiff, der Hurtigruten, beladen. Die Stadt brummt, doch mein Hirn weigert sich. Meine biologische Schaltuhr steht noch auf Nachtruhe. Ich muss mich überwinden, um in die Gänge zu kommen, rauszugehen und aktiv zu werden.
Ich will mit Menschen sprechen, die den ganzen Tag draussen arbeiten. Von halb elf bis halb zwei Uhr herrscht mittägliches Dämmerlicht. Tove Sørensen, Hundeführerin und Züchterin seit bald 30 Jahren, lacht nur, wenn sie nach Depressionen in der dunklen Jahreszeit gefragt wird. «Das kenne ich nicht, ich bin immer in Bewegung und arbeite draussen, auch in der Dunkelheit. Wenn ich mal Licht brauche, habe ich ja meine Stirnlampe. Das ist mein Rezept gegen Depressionen.»
Lebertran und Bewegung gegen Depressionen
Die Menschen bewegen sich tatsächlich viel. Überall begegne ich – selbst in tiefster Dunkelheit – Joggern und Wanderern, Langläufern und Spaziergängern, an den Wochenenden kommt Kajakfahren als beliebtes Freizeitvergnügen dazu. Kälte, Niederschläge und Dunkelheit sind keine Hindernisse.
Der Rentier-Schlittenführer, die Leiterin des Planetariums, der Werftarbeiter, der Strassenkehrer: Alle Einheimischen, die ich frage, schwören auf Lebertran vom Kabeljau und viel Bewegung an der frischen Luft. Die Nordländer sind keine Mimosen, sondern Optimisten, die sich ihres Lebens erfreuen, besonders in der dunklen Jahreszeit. Depressive Stimmung kann ich hier nirgends ausmachen.
Dauernd schaut man auf die Uhr
Auswärtigen wie mir macht der Lichtmangel hingegen schnell zu /schaffen. Um drei Uhr nachmittags ist es schon wieder so dunkel, dass meine innere Schaltuhr das Bedürfnis nach Feierabend und Bettruhe meldet. Es braucht Überwindung um weiterzumachen.
Auch David Gonzalez, ein spanischer Fotograf, vor zwei Jahren nach Tromsø gezogen, hatte anfangs grosse Mühe. «Es ist hart und seltsam: Jeden Tag erwartet man automatisch die Sonne. Man muss sich selber antreiben, um nicht einfach im Bett liegen zu bleiben – speziell, wenn noch schlechtes Wetter herrscht. Und dauernd schaut man auf die Uhr, um sich zu orientieren. Aber wenn dann am 21. Januar zum ersten Mal die Sonne wieder aufgeht, ist das zum Weinen schön. Dann gehen alle raus, sind glücklich und feiern – auch für die Einheimischen ist das ein besonderer Tag.»
Vier Stunden Dämmerung und Nordlichter
Es sind die speziellen Lichtverhältnisse, die den südländischen Fotografen hier im kalten Norden festhalten. Er schwärmt: «Das Licht verändert sich über die ganzen Jahreszeiten. Im Winter hat man dieses magische bläuliche Dämmerlicht hier fast vier Stunden lang; im Süden hält das höchstens 20 Minuten an. Und wenn dann noch Schnee liegt, wirkt das alles wie ein gigantischer Weichzeichner.»
«Und dann gibt’s im Winter abends ja noch die Nordlichter», sagt der Fotograf begeistert, «das ist zauberhaft – als würden sie sagen, lasst uns diese Dunkelheit mit Farbe und Glanz erfüllen, um alles etwas leichter und schöner zu machen.»
Das atmosphärische Glühen und Flackern am polaren Nachthimmel ist das grösste Lichtspektakel, das der Planet zu bieten hat. Ein Werftarbeiter bringt meine Eindrücke auf den Punkt: «Always look at the bright side of life – even in the dark.»