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Ehepaare (Frauen in weissem Kleid, teilweise mit Schleier, Männer im Anzug) verlassen händchenhaltend eine Bühne
Legende: An einer Massen-Zeremonie von über 200 Hochzeitspaaren in Ankara, 2006. Reuters

Gesellschaft & Religion «Zwangsheirat ist normal in meiner Familie»

Manchmal sind es kulturelle Gründe, manchmal finanzielle, dass Eltern ihren Kindern einen Ehepartner aufzwingen. Eine von ihnen ist Hülya (Name von der Redaktion geändert). Sie ist Ende zwanzig. Ihre Geschichte zeigt, wie schwierig es ist, sich aus der Spirale von Tradition und Gewalt zu lösen.

«Wo soll ich beginnen? Meine Familie stammt aus der Türkei. Ich kam als Kleinkind in die Schweiz und bin hier zur Schule gegangen. Als Teenager ging ich von zuhause weg.

In meiner Familie gibt es bestimmte Regeln: Frauen dürfen keine eigene Meinung haben. Frauen sind das Eigentum des Mannes oder der Familie. Es war von Anfang an klar, dass ich einen Cousin heiraten sollte, der noch in der Türkei lebte. Ich weiss nicht, wer das entschieden hat. Aber es ging auch darum, dass er in die Schweiz kommen konnte.

Zwangsheirat in der Schweiz

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Zwangsheirat gilt in der Schweiz seit Juli 2013 als Offizialdelikt, die Gesetzgebung wurde verschärft. Eine Studie des Bundes von 2012 erwähnt, dass die meisten Betroffenen aus dem Balkan, der Türkei und aus Sri Lanka stammen. Niemand kennt die genauen Zahlen. Allein die Beratungsstelle zwangsheirat.ch betreute bisher mehr als 700 Fälle.

Schein-Ehre beschmutzt

Mir war immer klar, ich wollte diesen Cousin nicht heiraten. Daraufhin haben mich meine Eltern und ein Verwandter massiv geschlagen. Ich musste reagieren. Ich habe meine Sachen gepackt und bin an einen sicheren Ort geflüchtet.

Ich war völlig zerstört, auch von den Schlägen. Mir wurde bewusst, dass es keinen Weg zurück gab: Ich hatte die Ehre – also die Schein-Ehre – meiner Familie beschmutzt, gegen die Normen verstossen. Vielleicht hätten sie mich gezwungen, in die Türkei zu gehen, damit niemand davon erfährt.

Milde Strafen

Dann war die grosse Frage, wie es weiter gehen soll, denn in diesem Unterschlupf konnte ich nur temporär bleiben. In einer betreuten Wohngruppe für junge Frauen wurde ein Platz frei. Ich besuchte ein Gymnasium in der Nähe. Aber nicht lange, denn meine Eltern machten mich dort wieder ausfindig.

Als ich einmal in der Stadt unterwegs war, tauchte plötzlich mein Cousin auf und griff mich an. Ich rief immer wieder laut: «Sie wollen mich umbringen!» Ich hatte Glück, Passanten mischten sich ein und beschützten mich. Ich bekam trotzdem einige Schläge ab. Die Polizei kam und verhaftete ihn. Ich kam ins Spital, doch ich hatte nur Prellungen.

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Daraufhin erstattete ich eine Anzeige. Die Polizei sagte mir, sie könne mich nicht schützen. Dieser Angriff würde nur milde bestraft, weil keine Messer und Schusswaffen im Spiel waren.

Sich das Leben nicht kaputt machen lassen

Bereits als kleines Mädchen musste ich mitansehen, wie Frauen aus der Verwandtschaft körperlich misshandelt wurden. Einmal habe ich gesehen, wie mein Onkel meine Tante geschlagen hat. Sie ist dann ins Zimmer verschwunden und hat sich sogar noch geschämt dafür, dass sie misshandelt wurde!

Solche Erlebnisse haben mich geprägt. Ich will mich nie von einem Mann schlagen lassen. Denn ich möchte mir mein Leben von niemandem kaputt machen lassen. Ich mache weiter, auch wenn es nicht einfach ist.»

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