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Das Lächeln sitzt. Die Kamera blitzt. Nadine Pulvers Augen leuchten. Sie winkelt das Bein an, neigt ihren Oberkörper nach vorne. «Zu viel Dekolleté?», fragt sie und nestelt kurz am knallroten Stoff ihres engen Wickelkleids. Die Fotografin schüttelt den Kopf und knipst.
Nach dem Shooting schlüpft Nadine Pulver wieder in ihre Alltagsklamotten. In der Garderobe des Kleidergeschäfts, das heute seine Kundinnen aufbrezelt und fotografiert, wirft die 44-Jährige einen prüfenden Blick in den Spiegel.
Ihr Lächeln wirkt jetzt gelöst. «Ich fühle mich wohl vor der Kamera. Ich sehe mich gern», sagt sie. «Das ist aber noch nicht lange so.»
Untendurch mit Übergewicht
Denn Nadine Pulver ist nicht nur eine einnehmende Person, mit neugierigem Gesicht und weicher Stimme. Sie hat auch eine Statur, die Raum einnimmt.
Seit ihrer Jugend ist Nadine Pulver übergewichtig. 20 Jahre kämpfte sie mit einer Essstörung. Sie ass zwanghaft zu viel, unterzog sich radikalen Diäten, nahm insgesamt 110 Kilo ab und 165 Kilo wieder zu.
Heute unterstützt sie als ganzheitliche Ernährungsberaterin andere dabei, einen Weg aus der Essstörung zu finden.
In ihre Workshops kommen Frauen, um die Gründe hinter ihren Essanfällen zu verstehen. Aber auch, um Frieden zu schliessen mit ihrem Körper. «Ich kenne dein Leid», steht auf Nadine Pulvers Webseite.
«Deine Körpermasse bestimmen, ob du liebenswert bist oder nicht.» Dieses Credo hatte auch sie selbst lange Zeit verinnerlicht: «Mein Leben war auf dem Abstellgleis und nur von einem Gedanken geprägt: Ich muss abnehmen, dann erst beginnt es.»
Die Selbstzweifel hat Nadine Pulver abgelegt. Die Pfunde sind geblieben. Heute trägt sie Konfektionsgrösse 54/56 und fühlt sich gesund. Hier – in der Ulla-Popken-Filiale in Zürich, einem Modegeschäft für Übergrössen – findet sie, was ihr passt.
«Kleiderkaufen ist nicht mein Lieblingshobby», sagt sie und packt das rote Kleid in eine Tüte. Aber es sei heute einfacher geworden.
Der Normalfall, aber nicht das Ideal
An der Zürcher Bahnhofstrasse, einige hundert Meter von Ulla Popken entfernt, reiht sich eine H&M-Filiale an die nächste. An den Stangen hängen dort heute nicht nur Kleider in Grösse 36, sondern auch Jeans in 44 oder Pullover in Übergrösse. Vor 30 Jahren wurden füllige junge Frauen in den Kleiderläden kaum fündig.
Der Modemarkt hat sich seither verändert – und angepasst an die Masse der Kunden, die Kleider ausserhalb der durchschnittlichen Masse tragen.
«Wie ein Martinshorn»
Rundlich, füllig oder dick zu sein: Das ist statistisch gesehen ziemlich normal. Wer zu viel auf die Waage bringt, fühlt sich gesellschaftlich trotzdem rasch als Aussenseiter.
«Man tendiert stets dazu anzunehmen, dass die Leute einen in erster Linie als Dicken betrachten. Denn unser Körper ist unsere Schnittstelle zur Welt», sagt der deutsche Journalist Bertram Eisenhauer, der ein Buch über den Alltag mit Übergewicht geschrieben hat.
«Dicksein ist mehr als ein ästhetisches oder gesundheitliches Problem», sagt Eisenhauer. Für ihn sei Dicksein vor allem ein soziales Problem: Nicht mithalten zu können, weil man schneller ausser Atem gerät. Beim Abendessen im Restaurant nicht satt zu werden. Kaum eine Partnerin zu finden.
Im Gegensatz etwa zu einer Alkoholsucht oder Depression sei Übergewicht für jeden sichtbar, erklärt Eisenhauer: «Das Dicksein trägt man wie ein Martinshorn auf dem Kopf.»
Für viele signalisiere ein wuchtiger Körper: Diese Person hat ihr Leben nicht im Griff. Vielleicht ist sie nicht ganz helle, auf jeden Fall willensschwach. Solche Klischees verinnerliche man nach und nach: «Das Dicksein beschädigt vor allem die Seele.»
Auch Nadine Pulver ertappt sich manchmal selbst dabei, wie sie sich von aussen betrachtet. Wenn sich etwa jemand im Zug nicht auf den freien Sitz neben ihr setze, denke sie manchmal: Steht der jetzt, weil er keinen Platz hat neben mir? Sich im Netz zu zeigen, unter richtigem Namen ihre Gedanken zu teilen: Das hat sie sich früher nicht getraut.
Grazien mit Übergewicht
Dass ein üppiger Körper etwas ist, das man kaschiert oder versteckt, war nicht immer so. Geht man in der Geschichte einige 100 Jahre zurück, gilt Körperfülle noch als etwas Begehrenswertes.
Eine weit verbreitete Theorie besagt: Je knapper die Nahrung, als desto attraktiver gilt Körperfett – verweist es doch auf einen gewissen Status und Wohlstand.
«Rubensfigur» ist heute zum geflügelten Wort für ausladende Kurven geworden. Beim Barockmaler Rubens und seinen Zeitgenossen gilt genau diese Figur als Ideal.
Die gehobene Gesellschaft der Zeit reichert Nahrung mit Zucker und Fett an, um an Gewicht zuzulegen. Körperfülle gilt als betörend und beeindruckend, rundliche Frauen ausserdem als gebärfreudig.
Daran ändern auch die Korsette des 19. Jahrhunderts nichts: Sie schnüren zwar die Taille ab, lassen aber das Ideal des runden Bauchs unangetastet.
Kein Zutritt unter 200 Pfund
«Bis ins frühe 20. Jahrhundert gilt Dicksein als Zeichen von Wohlstand, Standhaftigkeit, Stabilität – und als Bollwerk gegen zivilisatorischen Stress. Ein Grund, weshalb etwa auch viele Politiker dick sind», sagt die deutsche Forscherin Nina Mackert, die sich mit der Geschichte von Essen, Körper und Diät befasst.
Als kurioses Beispiel verweist Nina Mackert auf die sogenannten «Fat Men's Associations», die in den 1870er-Jahren in den USA entstehen: Erfolgreiche Geschäftsmänner, «körperliche und finanzielle Schwergewichte», treffen sich in diesen Bünden zu ausschweifenden Banketten.
Sie feiern ihren Körperumfang und vergleichen stolz ihr Gewicht. Wer Mitglied sein will, muss mindestens 200 Pfund auf die Waage bringen.
Kalorien machen Dicksein zum Problem
Erst in der Moderne wird Dicksein zum Problem. Für diesen Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebe es mehrere Gründe, erklärt Nina Mackert.
Einer davon ist das Aufkommen der Kalorie, die Ende des 19. Jahrhunderts als Masseinheit eingeführt und innert weniger Jahrzehnte zum populären Begriff wird.
Mit der Kalorie einher geht die Erkenntnis, dass der Körper wie eine Maschine funktioniert: Er braucht und verbrennt Energie. Die körperliche Postur ist einem nicht mehr einfach naturgemäss gegeben, sondern man kann an ihr arbeiten und sie gestalten.
Die Kalorie suggeriere, dass Gewicht einfach und messbar zu beeinflussen sei, erklärt Mackert: «In diesem Moment wird es ein Problem, dick zu sein: Weil es darauf hinzuweisen scheint, dass sich Menschen trotz besseren Wissens nicht mässigen.» Völlerei wird im Christentum schon immer verteufelt – doch erst jetzt glaubt man, dass sie sich am Körper zeigt.
Schnaps statt Kohlenhydrate
Wer fastet, beweist hingegen einen starken Willen. Hungerkünstler werden gefeiert, Körperfett gilt als Ausdruck von Unmännlichkeit. Kein Wunder, richten sich die ersten Diät-Ratgeber ausschliesslich an Männer. Sie raten zu wenig Kohlenhydraten, viel Rudern und Schnaps.
Dick sein, dick bleiben, steht plötzlich für individuelles Scheitern und wird zu etwas Verwerflichem. «In dem Moment, in dem der Körper zu etwas wird, das sich verändern lässt, kann er Auskunft darüber geben, wie jemand ist», so Nina Mackert.
Die Form des Körpers werde nachhaltig «zu einem Ausweis für die Fähigkeiten jedes und jeder Einzelnen, sich selbst zu regieren. Sich selbst gemäss dem verfügbaren Wissen, was gesund und schön ist, zu optimieren. Darüber wird verhandelt, wer als adäquater Teil der Gesellschaft gilt».
«Fat Ladies» und andere «Freaks»
Solche Verschiebungen von gesellschaftlichen Normen sind laut der Körperforscherin immer begleitet von einem Hin und Her zwischen Ablehnung und Faszination. Denn: «Das Eigene kann sich nur konstituieren über das Andere. Zu ‹wie man sein soll› gehört die Beschäftigung mit ‹wie man nicht sein soll›.»
Im Fall des Körperfetts zeigt sich diese Mischung aus Faszination und Ablehnung zum Beispiel am Phänomen der Freakshows. In der Zwischenkriegszeit touren stark übergewichtige Menschen mit Zirkussen und Jahrmärkten durchs Land – oft, weil sie keine Alternative haben.
Besonders «Fat Ladies» gehören zum Standardprogramm sogenannter Sideshow-Bühnen, auf denen alle Formen von menschlicher Andersartigkeit vorgeführt werden. Das Publikum bejubelt und begafft verwundert ihre Pfunde, zugleich werden sie als abartig verspottet.
Schönheitsideal: spindeldürr
Mit dem Aufkommen des Fernsehens verschwinden die Sideshows. Dafür befördern die Massenmedien in der Nachkriegszeit in der westlichen Welt umso stärker das Bild: Jeder – und vor allem jede – ist des eigenen Körpers Schmied. Schlanke Körper verheissen charakterliche Fähigkeiten und individuelles Glück.
Waren weibliche Ikonen bisher noch kurvig, wie Marlene Dietrich und Marilyn Monroe, wird das Schönheitsideal für Frauen nun immer schmaler. Lesley Hornby, Mitte der 1960er-Jahre die Ikone der Modewelt, trägt den Spitznamen «Twiggy», «Zweiglein».
Ihre spindeldürre Figur ist ihr Markenzeichen. Jugendlich dünn zu sein wird zum Inbegriff eines attraktiven Körpers. Twiggy wird zu einem der ersten Supermodels – noch bevor Naomi Campell, Claudia Schiffer oder Kate Moss in den 1990er-Jahren zu Superstars werden. Von der Barbiepuppe bis zum Aerobic-Video lautet die Devise: Schlank ist schön, Dicksein ungesund.
Lustige Dicke, traurige Moppel
Wer dick ist, ist gescheitert, hat sich gehen lassen, hat seine Affekte nicht unter Kontrolle. Je mehr Fett, desto fauler muss eine Person sein. Selber Schuld, wer den Gürtel nicht enger schnallen kann – dieses Bild ist bis heute gängig.
Auch die Popkultur hat dazu beigetragen, dass es sich verfestigt. So gibt es in Filmkomödien und Serien etwa häufig die Rolle des «lustigen Dicken».
Nicht nur die Witze gehen in Hollywood häufig auf Kosten dicklicher Sidekicks. Dünne Schauspielerinnen werden auch mal mit einem Fat Suit, einem gepolsterten Körperanzug, zu moppeligen Versionen ihrer Selbst – und mit den Extrakilos in die Rolle des lustigen, aber im Endeffekt traurigen Verlierers eingepasst.
Die Netflix-Show «Insatiable», die darauf setzt, löste diesen Sommer einen Shitstorm aus: Eine Online-Petition mit 230'000Unterzeichnern forderte die Absetzung der Serie, weil sie sich über Dicke lustig macht.
Dass wir dicke Menschen lustig finden, habe auch damit zu tun, dass sie sich oft selbst in diese Rolle begeben, meint Buchautor Bertram Eisenhauer. Humor sei für ihn eine Strategie, allfällige Vorurteile abzufedern: «Indem ich möglichst geistreich und lustig bin, kann ich den ersten Eindruck zerstreuen.»
#BodyPositive
Betram Eisenhauer setzt auf Humor und, in seinem ehrlichen Buch, auf Aufklärung. Nadine Pulver auf Sichtbarkeit: Im Netz versucht sie anderen Übergewichtigen Mut zu machen, sich mit ihrem Körper anzufreunden.
Sie selbst hat dafür Vorbilder im Netz gefunden. Dass füllige Frauen wie die deutsche Komikerin Nicole Jäger ihre Kurven nicht schamhaft verstecken, sondern in den sozialen Medien selbstbewusst in Szene setzen: «Das hat mich motiviert, mich auch zu zeigen.»
«Body Positivity» heisst die Bewegung für vielfältigere Körper, die in den letzten Jahren in den USA entstanden ist, und vor allem Instagram als Plattform nutzt. Hashtags wie #BodyPositive oder #EffYourBeautyStandards, zu Deutsch «wir scheissen auf eure Schönheitsideale», stellen infrage, was als schöner Körper gilt.
Neue Wörter, neue Wahrnehmung?
Ein Trend, den auch die Werbung in den letzten Jahrzehnten für sich entdeckt hat. 2004 setzte die Kosmetikfirma Dove neue Massstäbe, indem sie statt normierten Models normale Frauen in Unterwäsche zeigte. Ein Video aus der Kampagne wurde später zum meistgesehenen Werbefilm auf Youtube.
Heute wirbt H&M mit dem Plus-Size-Model Ashley Graham für seine Kollektion und verzichtet bei Bademode-Bildern auf Retusche. «Body Positive» zu sein, ist nicht mehr nur eine Kampfansage aus einer Nische des Netzes – sondern eine massentaugliche, kommerziell erfolgreiche Marketingstrategie.
Selbst die Modewelt, einst Hochburg von 90-60-90, reagiert darauf. Statt Claudia Schiffer flaniert heute Beth Ditto, die übergewichtige Sängerin der Band Gossip, mit Karl Lagerfeld über den roten Teppich.
Und die aktuelle Oktober-Ausgabe der englischen «Cosmopolitan» zeigte das übergewichtige Model Tess Holliday auf dem Cover.
Models, die mehr auf den Rippen haben, bezeichnen sich selbst als «curvy» oder «Plus Size». Im Gegensatz zu «Übergrösse» und «dick» klingt das nach etwas Erstrebenswertem, nicht nach einem Schimpfwort. Und tatsächlich würden heute wohl mehr den Hintern von Kim Kardashian als attraktiv bezeichnen als die dürren Glieder von Kate Moss.
Ein ambivalenter Wandel
Wandelt sich heute also unsere Wahrnehmung von Gewicht? Die Antwort ist ambivalent. Die letzten Jahre hat zwar kurvige Promis und üppige Influencer hervorgebracht. Aber auch Modetrends wie den «Thigh Gap» – die «Magerlücke» zwischen weiblichen Oberschenkel.
Als die amerikanische Drehbuchautorin Lena Dunham sich in ihrer Serie «Girls» mehrmals ungeschönt nackt zeigte, erhielt sie dafür ebenso viel Zuspruch («Wie mutig!») wie Ablehnung («Wie narzisstisch!»).
Mut ist etwas, das oft zugesprochen wird, wenn Körper, die eigentlich normal aussehen, öffentlich gezeigt werden. So könnte die Schweizer Beauty-Bloggerin Morena Diaz in wenigen Tagen den «Prix Courage» erhalten, weil sie sich «im Bikini – mit Dellen und Polstern» zeigt. Eine Nominierung, in der mitschwingt, dass Dellen und Polster eigentlich etwas sind, für das man sich schämen, das man lieber geheim halten sollte.
Es liegt an uns
Für Nadine Pulver war es zumindest ein persönlicher Wendepunkt, dass neben den gängigen Schönheiten auch Kurven und Gewichte sichtbar werden.
Trotzdem sagt sie: «Wir können nicht immer nur die Gesellschaft verantwortlich machen.» Letztlich sei es – so banal das klinge – die persönliche Aufgabe eines jeden, seinen Körper für gut zu befinden.
Für sich selbst hat sie beschlossen, sich nicht mehr auf ihre Makel zu konzentrieren. Sondern auf das Gute, das der Körper für sie tut: «Mein Bauch ist zwar dick, aber er arbeitet für mich. Meine Beine sind zwar dick, aber ohne sie könnte ich nicht im Leben stehen.»