Fitness, gesunde Ernährung, Schönheits-OP: Viele Menschen optimieren ihren Körper. Der Kunstwissenschaftler und Körperexperte Jörg Scheller erklärt, was dahintersteckt.
SRF: Immer mehr Menschen machen Fitness, schauen auf die Ernährung, lassen sich operieren. Warum dieser Körperkult?
Jörg Scheller: Paradox formuliert könnte man sagen: Der Körper ist so wichtig geworden, weil er nicht mehr wichtig ist. Wir brauchen ihn weniger denn je für schwere Arbeit, er hat seinen Zweck verloren. Darum wird er heute wie ein Kunstwerk gestaltet und geformt. Die Arbeit am eigenen Körper gibt uns eine wohltuende Illusion von Kontrolle.
Wie meinen Sie das?
Viele spüren heute ein latentes Gefühl der Ohnmacht angesichts der unübersichtlichen und komplexen Welt. Der Körper, so scheint es, ist die letzte Bastion des Kontrollierbaren: Hier können wir unmittelbar Einfluss nehmen. Wir sehen die Wirkung ganz direkt und spüren unsere Selbstwirksamkeit.
Eine Art Kompensation oder Ersatzbefriedigung also?
Nicht nur. Die Arbeit am Körper ist viel mehr als eine oberflächliche Fixierung auf das Fleisch. Es geht um Vergeistigung, um Formung. Philosophisch betrachtet ist die Form das, was der Materie ihre Erfüllung gibt.
Insofern erleben wir derzeit das genaue Gegenteil von Fleischeslust, nämlich Idealisierung und Veredelung. Formlose, ungezähmte Körper ekeln uns an.
Je exzessiver wir optimieren, desto dysfunktionaler wird das Ganze.
Führt dieser Körperkult dazu, dass die körperliche Vielfalt verloren geht und wir in Zukunft alle gleich aussehen werden?
Ich sehe eher eine Homogenisierung durch die Leistungsgesellschaft, auf die wir mit Selbststilisierung reagieren. Dadurch, dass wir alle Teil dieser Maschine sind, dieses auf Effizienz und Funktionalität ausgerichteten Wirtschaftssystems, findet eine gewisse Vereinheitlichung statt. Aber die individuellen Lebensstile sind heute vielfältiger denn je.
Es gibt also mehr Vielfalt, trotz Optimierungsdruck?
Ich denke schon. Zudem kippt die Optimierung von sich aus ja immer wieder ins Gegenteil: Je exzessiver wir optimieren, desto dysfunktionaler wird das Ganze. Das sieht man beim Bodybuilding sehr schön: Diese Menschen haben sich bis zur Unbeweglichkeit optimiert.
Aber auch wenn man sich in Sachen Fitness, Schönheit oder Ernährung optimiert, geht diese Optimierung aufgrund des rigiden Tagesablaufs oft mit einer sozialen De-Optimierung einher. Es fehlt schlicht die Zeit für spontanen gesellschaftlichen Austausch oder für politisches Engagement.
Verschiebt die Optimierung das, was wir als normal empfinden?
Sicherlich. Wer nur wenig Fitness macht oder sich die Nase leicht richten lässt, sieht sich als «Naturkind» im Vergleich mit den exzessiv optimierten Bodybuildern. Dabei hat auch er längst die sogenannte «Normalität» verlassen. Man braucht den Freak, um sich selbst als natürlich und normal zu empfinden.
Ich habe nie aufgehört mit dem Quatsch, den ich mit 13 gemacht habe.
Welchen Stellenwert hat denn heute die Normalität?
Es gibt heute sicherlich Leute, die sich mit Normalität abgrenzen von einem als hyperprogressiv empfunden Mainstream. Das passt gut zu all den Retrotrends, die zu beobachten sind.
Die Folklorisierung und Trivialisierung des Regelbruchs in Massenmedien, Werbung und Marketing hat die neo-konservative Sehnsucht nach Normalität begünstigt.
Leider aber wird Normalität oft zur Norm erhoben. Dabei könnte sie ein wunderbares Geschenk sein, wenn jeder sich frei dazu entschliessen kann, ohne Zwang.
Und doch wollen viele auf keinen Fall normal sein.
Es gibt den schönen Satz des französischen Dichters Arthur Rimbaud: «Ich ist ein anderer.» Jeder von uns trägt viele Facetten, Stimmen und Visionen in sich. Wenn unser Leben in festen Bahnen verläuft, kommt oft die Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen hoch.
In der Pubertät ist dieses Bedürfnis, jemand anderes zu sein, sehr stark. Heute ist dieser Lebensabschnitt mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter aber keineswegs abgeschlossen.
Unsere Gesellschaft ist pubertär?
In liberalen Gesellschaften haben wir die Freiheit, nicht nur Berufsjugendliche, sondern auch Berufspubertäre zu sein. Diese Freiheit hat zwei Gesichter. Der sogenannte Wutbürger ist das eine. Solche Leute isolieren das aggressive, trotzige Element der Pubertät und vergessen das progressive, gegenkulturelle. Wut schützt nicht vor Spiessertum.
Das andere Gesicht gehört denjenigen, die sich ihre pubertäre Skepsis gegenüber Mehrheitsgesellschaft und falscher Harmonie bewahrt haben.
Wenn man so will, profitieren Leute wie ich von Letzterem: Ich habe nie aufgehört mit dem Quatsch, den ich mit 13 gemacht habe. Ich verdiene sogar mein Geld damit – und trage so wohl selbst zur Folklorisierung des Regelbruchs bei.
Das Gespräch führte Yves Bossart.