- Bis Ende 2100 wird der Aletschgletscher bis auf kleinere Teile in hohen Lagen verschwunden sein.
- Das Schwinden des Gletschers hat etwa Auswirkungen auf den Tourismus, die Wasserversorgung und verursacht Schäden in der Landschaft.
- Der Rückzug des grössten Gletschers der Alpen ist für viele Anwohner des Gebiets aber auch ein emotionaler Verlust.
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Wer an der Seilbahnstation Riederalp aussteigt, hoch über dem Tal, findet sich in einem stillen Dorf wieder. Hier, auf der anderen Seite des Aletschwalds, sind die Chalets geschlossen, die Gartenzwerge schlafen, die Fahnenstangen stehen flaggenlos.
Nur da und dort wandert eine Gruppe. Man braucht nicht zu fragen, wohin sie unterwegs sind. Die einen steigen zuerst hinauf zur Riederfurka, dann durch den Aletschwald über die neue, spektakuläre Hängebrücke hinüber zur Belalp. Andere steigen hinauf zum Eggishorn, um von da aus zum Gletscher zu gelangen, zum Aletschgletscher.
Schleichend verschwinden
Ich aber mache einen Umweg, habe ein anderes Ziel. Es liegt oben auf dem Bergkamm und ist schon von weitem zu sehen: die Villa Cassel, das Pro Natura Zentrum Aletsch. Dort, auf über 2000 Meter über Meer, steht das einzigartige Dokumentationszentrum für eine ebenso einzigartige Landschaft, für das Jungfrau- und Aletschgebiet, ein Weltnaturerbe der UNESCO.
Dort will ich herausfinden, was es bedeutet, wenn derjenige, der diese Landschaft ausmacht, sie prägt, sie bestimmt, langsam verschwindet: der Aletschgletscher, der sich von der Jungfrauregion bis zum Aletschwald erstreckt.
22 Kilometer lang ist er noch, aber jeden Tag wird er kürzer. Er schmilzt mit dramatischer Geschwindigkeit dahin. Der grösste, der mächtigste Gletscher der Alpen, gespiesen vom absterbenden Oberaletschgletscher und anderen kleineren Gletschern, bis Ende dieses Jahrhunderts wird er fast verschwunden sein.
Zu diesem Befund kam der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich und der Universität Freiburg aufgrund neuester Studien. Das bleibt so, selbst wenn die Menschheit von einem Tag auf den anderen keine Treibhausgase mehr ausstossen würde.
Ein Panorama, das prahlen darf
Die Villa Cassel, mit ihrer Riegelfassade, den Türmchen und Spitzen, der ausladenden Terrasse, grossen, herrschaftlichen Fenstern, thront über der Riederfurka, als wäre sie aus einer anderen Welt.
Sie war vom reichen Banquier Sir Ernest Cassel zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut worden. Jeder Backstein, jede Zarge, jeder Kronleuchter wurde auf dem Rücken von Mauleseln vom Tal heraufgebracht.
Hier gingen Winston Churchill und andere Notable ein und aus, Lady Mountbatten residierte in der Villa. Jeden Morgen brachte ein Laufbursche frische Brötchen von Mörel zur Villa, über 1300 Meter den Berg hinauf.
Sir Ernest Cassel, die ganze sommerliche Gesellschaft, sie alle waren berückt und berührt von der Schönheit des Gletschers. Später, nach dem Tod des adligen Besitzers, genossen Hotelgäste den Blick auf den Gletscher. Dann stand die Villa viele Jahre leer.
Dem Gletscher nah
Heute hat jemand anderer hier das Sagen. Elisabeth Karrer, stellvertretende Leiterin des Pro Natura Zentrums, ist Umweltnaturwissenschaftlerin. Sie lacht viel, während sie spricht, die kurzen, dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht, ihre beiden kleinen Kinder sind heute bei der Grossmutter.
Sie führt mich durchs Haus die Treppe hinauf, im Erdgeschoss durchlaufen wir die Ausstellung zum Thema Hirsche. Elisabeth Karrer zeigt die geräumigen, besonnten Zimmer mit den hohen Decken, die früheren Bedienstetenzimmer. Eine gefährlich enge, steile und versteckte Treppe diente dem Personal.
Wie ein Familienmitglied
Wir setzen uns an den massiven Tisch am Fenster, es gibt Tee und Kuchen. Ich frage Elisabeth Karrer, was es für sie bedeute, in der Nähe des Gletschers zu leben.
Sie zögert kurz, sagt dann, dass der Gletscher ihr nah sei, vertraut, man könne auch sagen «ein Familienmitglied». Oder genauer «ein Freund, ein Vertrauter, und jedes Mal, wenn ich hinaufkomme, hier ins Pro Natura Zentrum, zu Beginn der Saison, schaue ich nach, ob er noch da ist, und ja, er ist noch da».
«Darüber sind Sie froh.»
«Ja, seine Anwesenheit gibt mir ein gutes Gefühl.»
«Warum?»
«Gletscher haben ja etwas Unendliches, sie sind jahrtausendealt, das ist eine gewisse Unendlichkeit. Wir sind viel weniger lang hier, ich gerade mal achtunddreissig Jahre, also noch nicht so lange. Und ich bin ihm zugewachsen, er war da. Ich kam zu ihm.»
«Jetzt verschwindet er langsam.»
«Ja, er zieht sich zurück. Die Unendlichkeit der Gletscher wird allmählich zu einer Endlichkeit. Das stimmt mich traurig.»
Der Gletscher schmilzt als Schmelzwasser davon, weil die mittleren Temperaturen im Alpenraum bereits zwei Grad über dem vorindustriellen Zeitalter liegen. Bestenfalls, so die Berechnungen des Glaziologen Matthias Huss, werden bis zum Ende dieses Jahrhunderts noch ein paar kümmerliche Reste von Gletschern übrigbleiben.
Das ewige Eis ist endlich
Für Elisabeth Karrer und das Pro Natura Zentrum Aletsch sind das neue Herausforderungen: den Besucherinnen und Besuchern erklären zu müssen, was da gerade passiert. Sie müssen die Leute aufklären, alle, die hier über die Berge kraxeln und Touren buchen über die Gletscher oder das Hochgebirge.
All die Touristen, die kommen, um das «ewige Eis» zu sehen. Ihnen muss erklärt werden, dass nichts mehr so sein wird, wie es heute ist. Dass der Gletscher verschwindet, dass sein Schwinden die Wasserversorgung des Wallis gefährdet, den Tourismus, die Existenz von Hoteliers, von Ferienwohnungsvermietern und Seilbahnen.
«Allein schon die Hangrutschungen», sagt Elisabeth Karrer. Früher konnte man von der Villa Cassel mehr oder weniger direkt zum Gletscher spazieren. Seit den Hangrutschungen, die sich an der Ostflanke des Gletschers, unterhalb der Moosfluh, ereignen, ist das nicht mehr möglich.
Der Permafrost taut auf, mit dem schwindenden Gletscher geht auch Stabilität für die Flanken verloren. «Jetzt», sagt Elisabeth Karrer, «müssen wir von der Riederalp hinauf über die Moosfluh und von dort hinunter zum Gletscher». Was früher ein Spaziergang war, ist heute eine Tagestour.
Welche Rolle spielt der Mensch?
Bei den Gletschertouren, die Elisabeth Karrer organisiert, wird jetzt nicht mehr nur erklärt, dass der Gletscher immer im Fluss ist. Man muss auch nicht mehr nur erläutern, woher die beiden schwarzen Streifen auf dem Gletscher stammen.
Immer öfter steht man auf dem «aperen» Gletscher, auf dem nackten Eis. So ist bei den Gletschertouren auch der Klimawandel ein Thema, man spricht die Gründe an, warum sich die Gletscher zurückziehen. Die Frage, welche Rolle der Mensch dabei spielt, wird wichtiger denn je.
Dem Abbrechen zuhören
Elisabeth Karrer ist beeindruckt, wie schnell das alles ging. «Das Rutschgebiet unterhalb der Moosfluh war immer schon in Bewegung, seit vielen Jahrhunderten. Es stand deshalb auch unter Beobachtung, man hat Veränderungen von wenigen Millimetern festgestellt. Aber nun, innert zwei Wochen, waren es plötzlich siebzig Zentimeter, zack.»
«Dann wurde gesperrt.»
«Ja, das ist auch richtig so. Denn mittlerweile sind wir bei mehreren Zentimetern pro Tag. Es bricht also ab. Das ist schon beeindruckend, aber gleichzeitig muss ich sagen – das ist die Natur. Sie waltet, verändert und jetzt reisst sie 700-jährige Bäume mit sich.»
Wer still ist, kann dem Abbrechen zuhören, draussen, vor dem Haus. Dann und wann ein Donnern, ein Grollen, abbrechende Felsen. Der Aletschgletscher, immer öfter blankes Eis, manchmal liegt darauf auch im Sommer eine Schneeschicht, er wird eines Tages aussehen wie der Oberaletschgletscher: eine Gerölllandschaft, die den Gletscher bedeckt.
Das Zuhause der Hirsche
Wir verlassen die Villa, das gediegene Ambiente, hinaus an die frische Herbstluft. Gehen die Nordflanke der Riederalp entlang, in den Aletschwald hinein, wir hören immer wieder den Brunstruf der Hirsche. Auch ihre Spuren sind sichtbar: verkümmerte junge Bäume, an denen sie sich gerieben haben.
Der Aletschwald, früher Holzschlaggebiet für die Bauern in der Umgebung, ist dank Pro Natura unter Schutz gestellt, darf nur auf den markierten Wanderwegen betreten werden.
Furchen von früher
Wir gehen dem Gletscher entgegen, unterwegs bleibt Elisabeth Karrer immer wieder stehen. Sie macht auf Veränderungen aufmerksam, zeigt hinüber zu den Hanggletschern, die sich dramatisch zurückgezogen haben.
Hanggletscher, sagt sie, seien von der Erwärmung des Klimas besonders betroffen, denn «je kleiner die Gletscher sind, desto schneller schmelzen sie». Sie zeigt auch auf die vielen Spuren, die der Gletscher hinterlassen hat. Die Seitenmoränen, die Schürfungen, die Furchen von früher, als er noch gross war und mächtig. Überall sind die Rundungen in der Landschaft sichtbar, dort, wo früher die Zungen der kleineren Gletscher endeten.
Wenn der Gletscherwind pfeift
Dann sind wir da, am Punkt, von dem aus man den Aletschgletscher gut sieht. Noch immer sieht er majestätisch aus, strahlt eine Ruhe aus, eine Erhabenheit, die berührt. Wir stehen für ein paar Minuten da, still.
Dann bitte ich Elisabeth Karrer, die Geschichte von den Toten zu erzählen, die zu Lebzeiten gesündigt haben. Der Legende nach sind sie dazu verdammt worden, auf dem Gletscher auszuharren und langsam, qualvoll ins Eis einzusinken. Über Jahre, über Jahrhunderte hinweg. Ein langer, schmerzhafter zweiter Tod für die sündigen Seelen, deren Geheul und Gejammer man ab und zu hört. Nicht nur dann, wenn der Gletscherwind pfeift.
Nur – was ist, wenn es den Gletscher einmal nicht mehr gibt, wohin sollen all die armen Sünder hin? Mit dieser Frage kehre ich zurück ins Tal. Die Seilbahn hinunter nach Mörel, dann die Bahn nach Brig.
Auch hier im Tal, wo die Herbstsonne warm an den Fassaden abstrahlt, dickrädrige SUVs ihr Kohlendioxid in die Luft pusten, wo Betonmauern um die Wette wachsen, auch hier scheint er anwesend, der Gletscher.
Im Auftrag des Gletschers
In Naters, halb Dorf, halb Vorort von Brig, steht ein kristallförmiger, moderner Bau. Seit etwas mehr als einem Jahr ist er in Betrieb, beherbergt das World Nature Forum. Es ist Dokumentations- und Besucherzentrum des UNESCO Welterbes Jungfrau-Aletsch, Informationszentrum und Ausstellung zugleich. Natürlich steht hier der Gletscher im Mittelpunkt.
Mario Gertschen, Informationsbeauftragter des World Nature Forums, hat ein offenes, zugewandtes Lächeln, Kurzbart, dunkle Augen. Er steht vor dem grossen Relief im Eingangsbereich, das zeigt, wie weit sich der Gletscher erstreckt.
Nicht nur ein Gletscher
Mario Gertschen macht gleich zu Beginn unseres Rundgangs klar, was dieses Haus will: erstens erklären, «was ein Weltnaturerbe ist, wieso gerade dieses Gebiet hier zum Weltnaturerbe ausgerufen wurde», und zweitens, «warum es sich lohnt, sich für diese Gegend, diese Landschaft einzusetzen».
Die Treppe hoch, dort zeigen Flurnamen an, wie vielgestaltig die Sprache im Einzugsgebiet Aletsch und Jungfrau ist. Man lernt schnell, dass sich Kultur, Landschaft, Sprache, Klima, Brauchtum und Vegetation hier zu einem Ganzen verdichten.
Ein Tod mit Auswirkungen
Oben angekommen, fällt der Blick als erstes auf einen Schnitt durch den Aletschgletscher, damit man, so Mario Gertschen, «die ganze Dimension erkennen kann». Noch immer ist er oben, am Konkordiaplatz, über 900 Meter dick, ein gewaltiger Eiskoloss. Geht man weiter durch die Ausstellung, wird aber vor allem sein Schwinden thematisiert.
Ein langsamer Tod, der Auswirkungen haben wird. Weil die Gletscher im Wallis wichtige Wasserspender sind, ist Gletscherwasser für die Landwirtschaft unverzichtbar.
Weil die Gletscher im Alpenraum auch die Flüsse speisen, sind sie für ganz Europa zentral. Weil das Auftauen der Gletscher den Meeresspiegel anheben wird, dramatisch. Weil Bergstationen, die auf Permafrost gebaut sind, ins Rutschen kommen werden. Weil das alles kosten wird, die Schäden in der Landschaft, an der Infrastruktur.
Kontrollverlust für Besucher
Man kann im World Nature Forum in einem alten Wagen der Jungfraubahn hinauf zum Jungfraujoch fahren, mitten durch eine animierte Landschaft. In einer eindrücklichen Filmdokumentation kann der Wechsel der Jahreszeiten erlebt werden, hautnah. Man kann spielerisch ermitteln, wie unser Fussabdruck auf die Umwelt und aufs Klima ist.
Im besten Fall, sagt Mario Gertschen, komme der Besucher zur Einsicht, dass wir «die Naturkräfte überhaupt nicht im Griff haben». Gut, wenn ihm klar geworden sei, dass gerade hier im Wallis der geringe Niederschlag, die steigenden Temperaturen, das fehlende Wasser existentiell seien.
Ein Mahnmal
Vielleicht erscheine manchem der Aletschgletscher als ein Opfer des Klimawandels, zugleich aber auch als ein Mahnmal, dass etwas getan werden soll. Beide Rollen des Gletschers erinnern uns daran, sagt Mario Gertschen, «dass wir die Verantwortung für das gemeinsame Erbe übernehmen müssen».
Die Frage, die mir auf den Lippen brennt, ich will sie Mario Gertschen noch stellen. Was ist mit den armen Seelen, die jetzt auf dem Gletscher langsam versinken, was wird mit ihnen, wenn der Gletscher nicht mehr ist?
Mario Gertschen überlegt nicht lange und sagt, «wenn die Gletscher einmal nicht mehr sind, dann sind auch wir nur noch arme Seelen».
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels stand, dass der Aletschgletscher bis Ende 2100 verschwunden sein wird. Korrekt ist: In hohen Lagen wird es dann noch kleine, unzusammenhängende Rest-Teile des Aletschgletschers geben.