Deutsche Schlager statt Orgelmusik, Jodeln statt Choräle: Was ungewöhnlich klingt, begeistert in der Schweiz zahlreiche Menschen. Jeden Sonntag um 10 Uhr sendet der private Fernsehsender Musig24 einen Gottesdienst, bei dem die Programmpunkte nicht von frommen Kirchenliedern untermalt werden, sondern von lebenslustigen Schlagern: die Schlagergottesdienste.
Statt Orgelmusik laufen Schlager
Ausgerichtet werden die Gottesdienste von dem methodistischen Pfarrer Stefan Moll aus Baden. Dieser hört privat zwar lieber klassische Musik, ist allerdings überzeugt: «Wenn die traditionellen Kirchen die Menschen ansprechen wollen, müssen sie neue Wege gehen.»
«Kirche ist dort, wo die Musik spielt», erklärt der Pfarrer, der mit Flüchtlingen arbeitet und sich als kritischen Geist bezeichnet. Molls Publikum weiss seinen Einsatz zu schätzen. Seine eingefleischten Fans bezeichnen sich als «Schlagerfamilie». «Die Leute sagen: Das ist endlich einmal ein Gottesdienst für mich, denn die Musik passt», so Moll.
Sonntagsritual: Schlagerpredigt
Er staune über die vielen schönen Rückmeldungen, sagt er. «Eine Seniorin im Altersheim hat mir gesagt, dass sie jeden Sonntag alle Leute von ihrer Station zusammentrommelt, um gemeinsam Tee zu trinken und den Gottesdienst zu schauen.»
Drei bis vier Mal im Jahr trifft der Pfarrer sich mit seiner Fangemeinde an Konzerten für gemeinsame Gespräche, den sogenannten «Schlagertreffen». Ein Angebot, das rege genutzt wird.
«Die meisten sind zwar in ihrer Kindheit kirchlich sozialisiert worden, aber die wenigsten gehen heute regelmässig in die Kirche», erklärt Moll: «Sie sind katholisch, protestantisch, methodistisch oder nichts.»
Aber genau darum gehe es ihm: «Diese Menschen zusammen und in ein Gespräch zu bringen. Kirche ist nicht ein Gebäude, sondern Begegnung.»
Hackbraten, Gott und Live-Musik
Dass die Schlagertreffen für Begegnung stehen, zeigt ein Augenschein vor Ort in einem Restaurant in der Ostschweiz: Mehr als 40 Schlagerfans versammeln sich zu Hackbraten und Live-Musik – alle über 60. Wer will, kann persönlich mit Pfarrer Stefan Moll sprechen.
Nach dem Essen tritt die Schlagersängerin Andrea Wirth auf. «Ich liebe das Leben, ich liebe den Wein, heyaheya-ho», singt sie. Das Publikum applaudiert und singt begeistert mit.
Wirth, in Tracht und von ihrer Band flankiert, versprüht ungekünstelte Fröhlichkeit. Ob die Liebe zum Wein, zur Heimat und den Bergen, ob nachdenkliche Worte über die Härte arbeitender Hände: Die Schlagerfamilie folgt der Sängerin von Stimmung zu Stimmung.
Den harten Alltag vergessen
Ist es für Pfarrer Moll kein Problem, dass diese heile Welt, die da besungen wird, wenig mit der Realität zu tun hat? Er schüttelt den Kopf: «Die Menschen hier sind oft gebeutelt vom Leben. Ich finde es legitim, wenn sie nicht auch noch in den Liedern mit Elend konfrontiert werden wollen.»
Es ist beeindruckend, wie ungekünstelt und nachdenklich die Teilnehmenden ihre Gedanken offenlegen: null Eitelkeit und wenig Angst, etwas Falsches zu sagen. Das gilt auch für Gisela und Sepp, beide um die 70 und seit Kurzem ein Paar. «Ich wohne in meinem Dorf, er in seinem», erklärt Gisela. Kennengelernt haben sie sich durch die Schlagerfamilie.
Aus dem Leben gegriffen
«Einmal sehen wir uns wieder», klingt es plötzlich melancholisch von der Bühne. «Mein Lieblingslied!», schwärmt Gisela. Es erinnere sie an ihre Eltern, die sie als Kind früh verloren habe. Die Seniorin kann nicht verstehen, wie man über Volksmusik oder Schlager die Nase rümpfen kann. «Das ist doch alles aus dem Leben gegriffen», sagt sie.
Wenn jemand ein Problem hat, besucht der Pfarrer uns zu Hause.
Abgesehen davon habe er nie Englisch in der Schule gelernt, ergänzt ihr Partner Sepp. Diese Musik verstehe er wenigstens. «Und ich darf meine Meinung sagen und mit dem Herrn Pfarrer diskutieren.»
Auch bei Gisela steht Stefan Moll hoch im Kurs: «Er nimmt sich viel Zeit für uns. Wenn jemand ein Problem hat, besucht er uns zu Hause.»
Musikbegeisterte Ersatzfamilie
Ein anderes, treues Mitglied der Schlagerfamilie ist Erika. Auf die Frage, was ihr die Schlagerfamilie bedeute, bekommt Erika gerade noch knapp «Na, Familie halt ...» heraus. Dann fliessen die Tränen.
Sie erzählt von ihrer Kindheit im Kinderheim: «Immer hiess es: ‹Sei still, geh weg›.» In Erikas Nebensätzen verbergen sich Abgründe: «Ja, dann habe ich geheiratet, das hätte nicht sein müssen.»
Inseln der Unbeschwertheit
Der Tod ihres Mannes war eine Erlösung. Ihr Sohn sei immer ihr Sonnenschein gewesen, sagt Erika. Doch der spreche auch nicht mehr mit ihr, erzählt sie, was den nächsten Tränenschub auslöst. Stefan Moll habe ihr bei der Verarbeitung geholfen. Sie sei richtig stolz auf sich und auf die Schlagerfamilie.
Eines ist nach diesem Abend klar: Die Mitglieder der Schlagerfamilie verwechseln die «Schubidu-Heiterkeit» der Schlagerwelt keineswegs mit dem richtigen Leben. Aber sie geniessen die Anlässe der Schlagerfamilie und die Lieder als kleine Inseln seltener Unbeschwertheit in einer nicht ganz einfachen Welt.
Sein Ziel, Menschen zu erreichen, die sonst nicht in die Kirche gehen, hat Moll damit auf jeden Fall erreicht.