Welche Institutionen sind unabdingbar, damit eine Gesellschaft im Krisenmodus funktioniert? Viele Kirchen hadern mit den coronabedingten Einschränkungen. Sie fordern eine Lockerung der Auflagen etwa für besonders grosse Kirchenräume.
Doch die Debatte über die «Systemrelevanz» führt ins Abseits. Kreative Lösungen sind gefragt, findet Pfarrer Patrick Schwarzenbach.
SRF: Wie geht die «Offene Citykirche St. Jakob» mit den geltenden Restriktionen um?
Patrick Schwarzenbach: Es gab einen Kreativitätsschub. Neue digitalen Formen von Gottesdiensten und Podcasts entstanden. Unsere Arbeit hat sich in Richtung Seelsorge verschoben. Denn viele Menschen verlieren den Boden unter den Füssen.
Konkret?
Wir telefonieren viel mit Menschen, etwa in Alterszentren. Als es noch wärmer war, führte ich Seelsorgegespräche über den Balkon. Seelsorge findet auf der Strasse vor unserer Kirche statt, oft mit randständigen Menschen. In der Kirche bieten wir niederschwellige Seelsorgegespräche an, wo man einfach kommen und reden kann.
Die Kirchen sollen dort präsent sind, wo dieses «System» Löcher hat.
Welche Angebote gehören für Sie zum Basisangebot, das unbedingt aufrechterhalten werden muss?
Aus meiner Sicht sind das drei Dinge: Neben der Seelsorge ist es die diakonische Arbeit, also etwa die Essen oder die Einkaufs-Gutscheine für bedürftige Passanten und Randständige. Und schliesslich die Formen von stiller Einkehr: Gebete, Meditationen, das Zur-Ruhe-Kommen. Diese drei Dinge bilden für mich den Kern unseres Angebots, so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner.
Nicht die Gottesdienste?
Eine Beschränkung auf die Sonntagmorgen-Gottesdienste wäre eine enorme Verkürzung des kirchlichen Auftrags, wie ich ihn verstehe.
Oft ist zu hören, Kirchen seien systemrelevant, gerade in Krisenzeiten. Wie sehen Sie das?
Ich glaube nicht, dass wir systemrelevant sind. Die Distanz der Kirche zum «System», wenn es denn so etwas gibt, halte ich für gesund. Das «System» hat politische und ökonomische Probleme: die Umwelt geht kaputt, Menschen werden an der Grenze weggewiesen, andere fallen durch die Maschen des Sozialstaates. Die Kirchen sollen dort präsent sind, wo dieses «System» Löcher hat.
Die Weihnachtsgeschichte illustriert dies besonders schön: Die drei Könige suchen das Jesuskind zuerst am «systemrelevanten» Ort, am Königshof. Doch dann finden sie es am Rand der damaligen Gesellschaft, in einer Hütte.
Tangieren die aktuellen Einschränkungen die Religionsfreiheit?
Ich finde nein. Man darf das Bibelwort ernst nehmen: Es reicht, wenn zwei oder drei Menschen zusammen feiern. Es braucht keine bestimmte Anzahl Menschen, damit eine Glaubensfeier «gilt».
Müssen die Kirchen in Erinnerung rufen, dass sie auch dazu da sind, Not zu lindern?
Wir haben viel zu bieten; Erfahrung, persönliches Engagement, Infrastruktur. Das «Corona-Manifest», eine ökumenische Initiative der Stadtzürcher Kirchen, soll dies signalisieren. Und während der gesamten Adventszeit brennt auf der Limmat ein Feuer als Hoffnungszeichen.
Tippe ich richtig, dass die zwischenmenschliche Hilfe Ihnen wichtiger ist als die Symbolik?
Man darf Symbolik nicht unterschätzen. Die Kirche ist nicht systemrelevant, aber sie soll relevant sein.
Werden die Kirchen durch die Pandemie an Bedeutung verlieren? Oder werden sie gewinnen, etwa durch den Kreativitäts- und Digitalisierungsschub?
Indem wir neue Wege ausprobieren, verlieren wir die Angst vor anderen Formen. Ich erlebte dieses Jahr keinen Bedeutungsschwund. Die Kirche hat die Chance, sich nützlich und sichtbar zu machen. Nicht als Gebäude und Institution, sondern durch ihre Wirkung.
Das Gespräch führte Christa Miranda.