Um uns mit jemandem anzufreunden, sind zwei Dinge entscheidend: gemeinsamer Raum und Zeit, die wir mit einer Person teilen. «In der Kindheit ist es noch ziemlich einfach. Da sind wir in der Regel mit den Kindern befreundet, die mit uns spielen», sagt die Entwicklungspsychologin Lisa Wagner.
Als Kinder und Jugendliche können wir von einem gemeinsamen Umfeld und Zeitplan profitieren. Wir sehen unsere Freundinnen und Freunde in der Schule und während der Freizeit. Wenn wir älter werden, ändert sich das.
Spätestens wenn Job, Familie und Care-Arbeit den Alltag bestimmen, gäbe es oft nicht mehr viel Raum für neue Bekanntschaften. «In dieser Lebensphase versucht man ganz häufig, verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden», sagt Wagner. Dazu komme, dass unsere Gesellschaft nicht darauf ausgelegt ist, dass wir im Erwachsenenalter vielen neuen Personen begegnen.
Freunde fürs Leben - oder bloss nette Bekanntschaften?
Diese Erfahrung macht auch Yasmin aus Winterthur: «Ich suche seit Langem nach tiefgründigen Freundschaften.» Die 47-Jährige ist in einer Partnerschaft und hat zwei, drei gute Kolleginnen. Yasmin sehnt sich nach einer Person, der sie sich anvertrauen kann, die ehrlich zu ihr ist und ihr auch mal die Meinung sagt.
Sie lernt zwar Leute kennen, neue Bekanntschaften lösen sich aber nach kurzer Zeit wieder in Luft auf. Das geht ihr an die Substanz, es drängt sich die Frage auf: Liegt es an mir, dass es nicht funktioniert? «Selbstzweifel kenne ich sehr gut», sagt Yasmin.
Gleichgesinnte online finden
Um ihre Suche zu erweitern, hat sich Yasmin auf einem Online-Portal angemeldet. «Es ist eigentlich wie Dating, einfach ohne die Romantik», sagt sie. Und es erfordert Selbstreflexion. «Wie möchte ich rüberkommen? Wie verhindere ich Missverständnisse? Es sind nur ein paar wenige Sätze und da ist das sehr schwierig.»
In ihrem Inserat schreibt sie, dass sie gerne Zeit in der Natur verbringt, an einem Austausch über Literatur interessiert ist und gerne Tanzen geht. Es kommt zu mehreren Treffen, netten Begegnungen, aber es entstehen keine tiefen Freundschaften.
Erwartungen verändern sich
Dass es mit dem Älterwerden schwieriger wird, Freundschaften zu knüpfen, hat auch damit zu tun, dass sich unsere Erwartungen verändern. «Kinder erwarten jemanden, der mit ihnen spielt. Jugendliche möchten jemanden, der ihnen zuhört oder etwas mit ihnen unternimmt. Und bei Erwachsenen verändert sich die Erwartung an die Tiefe unserer Gespräche und die Übereinstimmung unserer Überzeugungen», so die Entwicklungspsychologin Lisa Wagner.
Gemeinsames Hobby als Chance
Auch Yaron muss sich auf neue Menschen einlassen. Ursprünglich kommt der 30-Jährige aus Israel, der Liebe wegen ist er nach Bern gezogen. Ihm fällt es leicht, auf Fremde zuzugehen. «Eigentlich ist es ganz einfach», sagt er, «man muss einfach das tun, was einem selbst Freude macht. Dann trifft man automatisch Gleichgesinnte.»
Sein Tipp: Vereine, davon gäbe es in der Schweiz eine Menge. So habe ich auch schon mal jemanden auf der Skipiste kennengelernt. «Ich habe ihm ein Kompliment zu seiner Jacke gemacht und seither sind wir zusammen wandern und biwakieren gegangen.»
Langfristige Freundschaften als Stütze
Yaron hat problemlos Anschluss gefunden. Durch seine Offenheit traf er schnell andere Menschen, die seine Interessen teilen, mit ihm Ski fahren, Pilze sammeln oder mit dem Hund spazieren gehen. Doch manchmal ist auch das nicht genug.
«Wenn mir etwas auf der Seele brennt, melde ich mich bei meinen alten Freunden in Israel. Manchmal reicht es schon, eine Stunde per Videocall zu telefonieren, um ein Problem zu besprechen und sich Rat zu holen», sagt Yaron. Diese Vertrautheit würde er auch gerne in der Schweiz wieder finden. Aber: «Das braucht Zeit.»
Die drei Funktionen der Freundschaft
Sich jemandem anvertrauen zu können, sei eine von drei Funktionen, die Freundschaft für uns übernehmen kann, so die Psychologin Lisa Wagner. Insgesamt gibt es drei:
- Intimität, mit jemandem über alles reden zu können.
- Loyalität, jemanden zu haben, der oder die immer für einen da ist.
- Und Spass zu haben, zum Beispiel bei der gemeinsamen Freizeitgestaltung.
Bevor man sich also auf die Suche nach neuen Freundschaften macht, kann man sich überlegen, welche Funktion man abdecken möchte.
Sich in ein neues Umfeld begeben
Auch Yasmin entdeckt ihre extrovertierte Seite. Sie schreibt seit Jahren und hat sich getraut, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Sie hat inzwischen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht. «Das Publizieren hat mich Mut gekostet», sagt sie. Dieser Schritt habe sich aber gelohnt.
Durch ihre Auftritte in der Öffentlichkeit lernt sie neue Leute kennen, die sich für die gleiche Sache interessieren. Für Yasmin eine Bereicherung und ein Grund zur Hoffnung: «Vielleicht lerne ich jetzt ja die Menschen kennen, die zu mir passen.»