Jeden Mittwoch besucht Franziska Bangerter Lindt das Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel. Freudig wird die Seelsorgerin bereits am Eingang begrüsst. Das Gefängnispersonal schätzt ihre Besuche genauso wie die Inhaftierten.
«Franziska ist eine riesige Stütze für mich», sagt Simone M., Leiterin Vollzugskoordination. Wenn es einem Gefangenen besonders schlecht gehe, könne sie das der Seelsorgerin mitteilen. Manche Inhaftierte verweigerten auch Gespräche mit einem Psychiater, würden aber mit der Seelsorgerin reden, erzählt die Leiterin.
Seit über 20 Jahren arbeitet Simone M. im Untersuchungsgefängnis. Auch sie kann zwischendurch bei Franziska Bangerter Lindt abladen. «Sie weiss genau, wovon ich rede», beschreibt Simone M. das Verhältnis zwischen ihnen. «Sie kennt die Gefangenen und weiss genau, wie es in einem Gefängnis zu und her geht.»
Alltag einer Gefängnispfarrerin
Franziska Bangerter Lindt besucht die Gefangenen in ihren Zellen. «In der Zelle bin ich allein mit der inhaftierten Person. Es gibt ja das Seelsorgegeheimnis», sagt sie. Zur Sicherheit trägt sie aber immer ein Personenschutzgerät mit Notfallknopf.
Passiert sei ihr in all den Jahren zum Glück noch nie etwas, erzählt die Seelsorgerin sichtlich erfreut. Nur einmal habe ihr ein Gefangener gedroht, woraufhin sie das Gespräch abgebrochen habe.
Nach so vielen Jahren Berufserfahrung merkt Franziska Bangerter Lindt, wann sich eine Situation zuspitzt: «Dann sage ich, wir beenden jetzt das Gespräch und ich komme nächste Woche wieder.» Das sei aber selten, betont sie.
Meist verhalten sich die Inhaftierten ihr gegenüber respektvoll. «Eine Pfarrerin ist für viele noch immer eine Respektsperson», so Bangerter Lindt. Auch als Frau unter meist männlichen Gefangenen erlebe sie kaum Ablehnung. Sie erlebe von den inhaftierten Männern viel Offenheit und Dankbarkeit. Die Inhaftierten würden es schätzen, dass sie da sei und sich Zeit für sie nehme.
Im Untersuchungsgefängnis Waaghof sind knapp zehn Prozent der Inhaftierten Frauen. Mit ihnen sei es auf eine gewisse Art unkomplizierter, erzählt Franziska Bangerter Lindt. «Wenn sie weinen, kann ich ihnen auch mal den Arm um die Schultern legen und sie trösten.» Bei Männern hält sich die Seelsorgerin mit Körperkontakt zurück.
Gottesdienste als Ort des Austausches
Der Alltag im Gefängnis läuft immer gleich ab. Deshalb ist jede Abwechslung willkommen. Ein Highlight sind die Gottesdienste an Weihnachten und Ostern. Franziska Bangerter Lindt organisiert die Gottesdienste: mit Musik, einer Predigt und kurzen Texten, die die Inhaftierten in ihrer Muttersprache vorlesen.
Das gesprochene Wort spielt dabei nicht die Hauptrolle. Wichtiger ist der Anlass an sich – der einzige Moment, wo sich die Frauen und Männer im Gefängnis begegnen. Zu diesen Anlässen machen sie sich fein. «Sie kämmen sich, ziehen frische Kleider an, die Frauen tragen auch etwas Lippenstift auf», sagt die Seelsorgerin.
Männer und Frauen beobachteten sich gegenseitig. Die Predigt sei für viele zweitrangig. «Dafür habe ich totales Verständnis», sagt Bangerter Lindt. «In Haft würde auch ich jedes Angebot annehmen, das Abwechslung verspricht.»
Freidenker kritisieren Seelsorge
Seelsorgerinnen wie die Pfarrerin Bangerter Lindt sind nicht nur im Gefängnis anzutreffen. Im Militär, Asylzentrum oder Spital kümmern sie sich um Menschen in Extremsituationen, in Krisen oder in Not. Ihnen gemeinsam ist der religiöse Hintergrund.
Immer weniger Menschen gehen in die Kirche. Doch für all die, die mit der Kirche nichts am Hut haben, gibt es kein Seelsorgeangebot.
Das kritisiert die Freidenkerbewegung. Ihr Vizepräsident, Valentin Abgottspon, moniert: «Immer weniger Menschen gehen in die Kirche. Doch für all die, die mit der Kirche nichts am Hut haben, gibt es kein Seelsorgeangebot.»
Freidenker Abgottspon fordert eine humanistische Seelsorge – also eine Seelsorge ohne Religion. Etwa im Spital. «Wie soll jemand mit einem römisch-katholischen Seelsorger über Abtreibung oder Sterbehilfe sprechen?» Auch wenn viele Seelsorgende nicht missionieren, sei die Gefahr da, dass die Religion in die Gespräche einfliesse. Auch dann, wenn der Patient das nicht wolle.
Dem widerspricht Christoph Rochlitz. Er ist Chefarzt der onkologischen Abteilung des Basler Universitätsspitals und Agnostiker. In seiner Zeit als Arzt habe er bisher keine Patienten erlebt, die sich über übergriffige Seelsorger beklagt haben.
«In Krisensituationen ist Religion Nebensache»
Gerade für seine Patientinnen und Patienten, die mit einer Krebsdiagnose konfrontiert sind, sei die Seelsorge sehr wichtig. «Sie stellen sich existenzielle Fragen: Warum ich? Was passiert nach dem Tod?», erzählt Chefarzt Christoph Rochlitz. Hier könnten die Spitalseelsorger helfen. Ausserdem gebe es bereits eine humanistische Seelsorge durch die Fachleute der Onkopsychologie.
Nicole de Lorenzi ist reformierte Seelsorgerin in Winterthur. Sie sagt: Wer keine Seelsorge möchte, könne sie einfach wegschicken. Die Seelsorge sei ein Gesprächsangebot, offen für alle Weltanschauungen. «Wir kommen nicht mit der Bibel. Wir missionieren auch nicht», versichert Nicole de Lorenzi. In Krisensituationen sei der religiöse Hintergrund auch oft nebensächlich.
Hilfe in schweren Zeiten
Solche Krisensituationen gibt es auch im Berufsalltag von Gefängnisseelsorgerin Franziska Bangerter Lindt. Dazu gehört beispielsweise das Thema Suizid. Gefangene äussern ab und zu diese Gedanken, einige nehmen sich in Haft auch das Leben. So geschehen vor einem Jahr im Waaghof in Basel.
Dieser Suizid hatte der Aufseherin Jeannette H. den Boden unter den Füssen weggezogen. «Die Gespräche mit Franziska waren Gold wert. Einfach mit ihr darüber zu reden, hat mir schon geholfen», erinnert sich die Aufseherin. Franziska Bangerter Lindt habe ihr ein Kärtchen geschrieben, mit Handynummer drauf und dem Angebot, dass sie sich jeder Zeit bei ihr melden könne.
Undurchsichtige Finanzierung?
Den Freidenker Valentin Abgottspon stört, dass eine solche Seelsorge mit dem Label der «Kirche» versehen ist. Das diene der Imagepflege. Zudem sei die Finanzierung intransparent. Abgottspon kritisiert, dass die Landeskirchen vom Staat Geld erhielten. Gedacht sei dies für die soziale Arbeit der Kirchen. Ein Teil dieses Geldes fliesse in die Seelsorge.
«Ich als Freidenker bezahle mit meinen Steuern also ein Angebot, das ich gar nicht nutze, das ich sogar explizit ablehne», sagt er. Für seelsorgerische Angebote ausserhalb der religiösen Gemeinschaften hingegen gebe es kein Geld.
Allerdings bezahlen die Landeskirchen einen grossen Teil der Spezialseelsorge aus der eigenen Tasche. «Ich frage mich, ob Angebote wie die Spitalseelsorge bezahlbar wären ohne Engagement der Kirche», sagt deshalb Chefarzt Rochlitz.
Denn ein wichtiges Element der Seelsorge sei, dass sie von denjenigen, die sie in Anspruch nehmen, nicht bezahlt werden müsse. Dass die Pfarrerin im Spital die Zeit habe, die den Ärztinnen und dem Pflegepersonal oft fehle.
Muslimische Gefängnisseelsorge
In der Schweiz sind aber nicht nur die Landeskirchen aktiv in der Spezialseelsorge. Mustafa Memeti ist Imam und muslimischer Gefängnisseelsorger im Gefängnis Thorberg im Kanton Bern. Das Gefängnis Thorberg thront als ehemalige Burg auf einem Berg oberhalb Krauchthal im Emmental. Wer rechtskräftig verurteilt ist, sitzt seine Strafe dort ab.
Es sei für ihn eine heilige Aufgabe, Menschen in schwierigen Situationen zuzuhören. Das habe ihn schon vor Jahren dazu bewogen, Menschen im Gefängnis zu besuchen, erzählt der Imam.
Das Büro des Gefängnisseelsorgers Memeti ist mit Pfarrzimmer angeschrieben. Er teilt den Raum mit christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. «Wir arbeiten gut zusammen», sagt der Imam. Es sei erfreulich, dass in Schweizer Gefängnissen immer häufiger muslimische Seelsorger tätig seien.
Gefängnisseelsorger als Zuhörer und Begleiter
Ablu Kadir Mukthar tritt ins Zimmer. Er begrüsst den Seelsorger lachend mit einem «Hallo, wie geht’s?». Seit drei Jahren verbüsst der Somalier in Thorberg seine Strafe. «Ich kann mit Herrn Memeti über alles reden», erzählt der grosse Mann mit strahlenden Augen.
«Ich bekomme nicht oft Besuch», sagt Kadir Mukthar. Die Gespräche mit dem Seelsorger seien eine willkommene Abwechslung im Gefängnisalltag.
Er sei Muslim, betont der 36-Jährige. Das heisst aber nicht, dass Ablu Kadir Mukthar nur mit einem Imam redet. Er schätze die Gespräche mit der christlichen Seelsorgerin genauso.
Raus in die Freiheit
Imam Mustafa Memeti besucht das Gefängnis Thorberg jeden Donnerstag. Auch der junge Afghane Maxudi Fahim sucht regelmässig das Gespräch mit dem Seelsorger.
Die Menschen hier brauchen mich. Das gibt mir ein positives Gefühl.
Maxudi Fahim erzählt, dass er am Tag zuvor in Genf war. Er hatte einen Termin beim afghanischen Konsulat. Vermutlich wird der 22-Jährige ausgeschafft. Imam Memeti fragt nach und erkundigt sich, wie es dem jungen Mann geht.
Der Seelsorger liebt die Arbeit im Gefängnis. «Die Menschen hier brauchen mich. Das gibt mir ein positives Gefühl», sagt der Imam. Positive Gefühle spüre er aber auch jedes Mal, wenn er Thorberg wieder verlasse, betont Memeti. «Dann schätze ich die Freiheit wieder ganz besonders.»