Krisen, Krankheiten und ähnliche Katastrophen: Jeder Mensch erlebt sie. Und alle müssen wir sie irgendwie meistern – am Schluss auch das Sterben. Die Frage ist nur: wie?
Wie sieht Seelsorge aus, wenn wir nicht mehr an so etwas wie Seele glauben? Wie geht Sterbebegleitung, wenn wir aus dem letzten Loch pfeifen, aber auch auf die Kirche?
Zeit für ein Gespräch mit Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich.
SRF: Spiritual Care – das klingt leicht verzweifelt nach Seelsorge in post-religiösen Zeiten.
Simon Peng-Keller: Das ist ein verbreitetes Missverständnis (lacht). Spiritual Care ist der Einbezug der spirituellen Dimension in die Gesundheitsversorgung. Seelsorge ist eine spezialisierte Form von Spiritual Care.
Spiritual Care ist Ausdruck der Einsicht, dass sich die Gesundheitsberufe zusammen mit der Seelsorge an einen Tisch setzen müssen. Und dass zu einer ganzheitlichen Behandlung eben auch eine spirituelle Dimension gehört.
Die Kirchen leeren sich. Gibt es überhaupt ein Bedürfnis nach mehr spirituell-religiöser Begleitung in der Pflege?
Das belegen viele Studien. Wobei die Erfahrung nicht wirklich neu ist, dass für Menschen in kritischen Lebenssituationen die spirituelle Dimension wieder wichtiger wird.
Vielleicht war die Spiritualität schon früher im Leben wichtig. Ich glaube, wir leben gar nicht in einer post-religiösen Gesellschaft. Wir befinden uns in einem Transformationsprozess des Religiösen.
Früher kam der Pfarrer ans Sterbebett. Heute ist das komplizierter geworden. Viele Menschen fasten Vollzeit, machen Yoga und achten auf Achtsamkeit. Sie haben ein spirituelles Bedürfnis, aber keine Lust auf Kirche. Wie erleben Sie diesen Widerspruch?
Als Spannung. Viele Menschen haben tatsächlich ein gespaltenes oder gebrochenes Verhältnis zur Kirche. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie sich nicht mit spirituellen Fragen beschäftigen wollen.
Die westeuropäischen Gesellschaften haben das Problem, dass sie die spirituelle Dimension tabuisieren.
Wir leben ja auch in einer Zeit der religiösen Pluralisierung. Die Menschen lassen sich nicht mehr einfach so nach Konfessionen einteilen. Es gibt eine Menge individuell gelebter Spiritualitäten und Sinnsuchen.
Es ist alles komplizierter geworden – aber auch bunter.
Darf es dem Seelsorger auf den Keks gehen, dass die meisten Leute erst kurz vor Ladenschluss nach ihm rufen?
Man sagt ja, Not lehrt beten. Wir Menschen merken oft erst in einer Krisensituation, dass wir auf andere Ressourcen zurückgreifen wollen. Ich glaube aber, die Menschen sind spiritueller und religiöser, als man gemeinhin denkt.
Allerdings haben die westeuropäischen Gesellschaften das Problem, dass sie die spirituelle Dimension tabuisieren. Uns fehlt die Kultur, in der Öffentlichkeit über das Sterben zu reden. Wir tun es nicht mal im Kreis der Familie.
Müssen Sie Ärzte und Pflegende mit spiritueller Kompetenz ausrüsten, weil wir keine Sprache haben, wenn ein Leben zu Ende geht?
Auf diesem Feld war man früher vielleicht gar nicht so viel sprachkompetenter. Für Menschen, die noch ganz klassisch religiös sozialisiert wurden, gehört diese Dimension selbstverständlich zum Leben. Aber es ist eine Art «Praxis», dafür braucht es keine Sprache.
Es tut gut, wenn man reden kann. Über alles.
Man kann das Sterben niemandem abnehmen. Auch nicht das Reden darüber. Aber es gibt Möglichkeiten, jemanden dabei zu unterstützen – Patienten und ihre Angehörigen.
Geht’s einen Hauch konkreter?
Ich muss mich zunächst von der Vorstellung befreien, dass ich Menschen auf eine Konfessionszugehörigkeit festlegen kann. Wenn jemand als katholisch gemeldet ist, ist das nicht mehr als ein erster Hinweis. Ob und in welcher Weise jemand in spiritueller Hinsicht «musikalisch» ist, erfahre ich erst, wenn ich ihn oder sie darauf in geeigneter Weise anzusprechen vermag.
Der zweite Schritt wäre, ein vorhandenes spirituelles Bedürfnis in kritischen Situationen wahrzunehmen und einzubeziehen. Getreu dem Motto: Es tut gut, wenn man reden kann. Über alles.
Wir sind gerade dabei zu lernen, im Gespräch mit Schwerkranken auch eigene Tabus abzubauen. Das gilt für Ärzte, Pflegefachpersonen und Angehörige.
Hinter der Idee von Spiritual Care steckt die Vorstellung, ein gesunder, nun ja, Geist könne dem kranken Körper helfen. Was sagt die fakten-fixierte Forschung zum eher spekulativen Wirkungszusammenhang von Geist und Genesung?
Wir reden hier nicht von Wunderheilungen. Es geht in aller Regel um Zusammenhänge, die auch aus einer säkularen Perspektive leicht nachvollziehbar sind.
Den Menschen tut es nun mal gut, wenn sie sich mit jemandem über alle Fragen unterhalten, die sie beschäftigen oder verunsichern, ebenso auch über spirituelle Erfahrungen, die ihnen geschenkt werden.
Das sind Zusammenhänge, die nicht metaphysisch sind, sondern auch pragmatisch eingestellten Ärzten einleuchten. Insgesamt erlebe ich da bei Ärzten eine verhaltene Offenheit (lacht).
Gibt es Studien, die belegen, dass Religiosität und Spiritualität die Widerstandskraft stärken?
Grundsätzlich sind Erfahrungen am Lebensende empirisch schwer zugänglich. Man kann Sterbende schlecht erforschen. Und wenn sie tot sind, wird es noch einmal schwieriger (schmunzelt).
Es gibt aber in der Tat viele empirische Studien in diesem Gebiet. Die meisten sind im Bereich der Medizin und der Pflegewissenschaft angesiedelt.
Wann hat sich die westliche Medizin eigentlich eingestanden, dass ein Körper möglicherweise mehr ist als nur ein Körper?
Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es eine Reihe von medizin- und gesundheitsreformerischen Bewegungen, die Spiritual Care schon auf dem Schirm hatten.
Eine spannende Spur ist auch die Entwicklung innerhalb der Weltgesundheitsorganisation WHO. Deren Definition von Gesundheit wurde früh von der sozialen Medizin inspiriert, die von einer rein biomedizinischen Verengung wegkommen und auch die sozialen Faktoren mitbedenken wollte.
Die WHO hat 1984 auf höchster Ebene über die spirituelle Dimension diskutiert. Die Resolution hat leider nicht gross Wellen geschlagen damals, sie blieb eine unter vielen.
Ist Spiritual Care mehr als der clevere Codename für ein zeitgemässes Geschäftsmodell einer Kirche in der Krise?
Ich finde, die Kirchen engagieren sich nach meiner Wahrnehmung eher noch zu wenig auf diesem Gebiet. Es gehört zum christlichen Heilungsauftrag, sich für die bestmögliche Versorgung von kranken und sterbenden Menschen einzusetzen. Dafür braucht es auch eine interprofessionell abgestützte Spiritual Care.
Es ist nicht nur schrecklich schwierig, gut Abschied zu nehmen. Es ist auch menschenmöglich.
Skizzieren Sie uns zum Schluss jenen Idealfall von Spiritual Care, auf den Sie hinarbeiten?
Es braucht zunächst eine gute Ausbildung sowie eine Verständigung im interprofessionellen Team: Wie sprechen wir miteinander über diese Dimension? Wann und wie beziehen wir sie in die Kommunikation mit Patienten ein? Auch Seelsorgende sollen in diesem interprofessionellen Team gut integriert sein.
Sie haben an vielen Sterbebetten gesessen. Haben Sie noch Angst vor dem Tod?
Nach all den Erfahrungen, die ich gemacht habe, kann ich nur sagen: Das hat noch jeder geschafft. Auch ich werde es hinbekommen. Es ist nicht nur schrecklich schwierig, gut Abschied zu nehmen. Es ist auch menschenmöglich.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.