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Homosexuell im 19. Jahrhundert Früher kriminalisiert – heute ein Schweizer Schwulenpionier

Der Toggenburger Jakob Rudolf Forster (1853–1926) war ein «Urning», ein Schwuler. Zu einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur ein Tabu, sondern auch ein Delikt war. Forster wurde schikaniert, verhaftet, weggesperrt, galt als kriminell und geisteskrank. Doch er wehrte sich, laut und selbstbewusst.

Herbst 1879. In der Ostschweiz herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung: In der Region gehen immer mehr Stickmaschinen in Betrieb, es sind die goldenen Jahre der Textilindustrie. Am kantonalen Schützenfest in Flawil staunen die Menschen über das erste elektrische Licht, und im Restaurant Hörnli in Sankt Gallen wird offiziell der FC Sankt Gallen gegründet, der heute älteste Fussballverein auf dem europäischen Festland.

Historische Strassenszene mit Gebäuden und Pferdekutsche.
Legende: Jakob Rudolf Forster wächst in Brunnadern im Toggenburg auf. Hier: Dorfleben vor dem «Löwen» in Brunnadern, um 1900. Privatarchiv Jakob Bischofberger-Graf

Auch der Toggenburger Honighändler und Heiratsvermittler Jakob Rudolf Forster ist voller Zuversicht. Eben erst ist er von Zürich nach Sankt Gallen gezogen. Der 26-Jährige hofft auf gute Geschäfte, darauf, dass sich seine Rezepte für Honig-Ersatzprodukte gut verkaufen und er viele Heiratswillige verkuppeln und so gutes Geld verdienen kann.

Doch stattdessen kommt er im November 1879 in Untersuchungshaft – zum dritten Mal in seinem noch jungen Leben. Beamte durchsuchen seine Unterkunft, man wirft ihm Betrug, Hehlerei und Prellerei vor. Nichts davon lässt sich erhärten. Trotzdem kommt Forster vor Gericht. Sein Verhängnis: ein kleines, blaues Heft.

Logbuch des Illegalen

Es ist sein «Liebhaberheft», darin sind über 140 Namen von Männern aus allen Gesellschaftsschichten fein säuberlich aufgeführt. Die Beamten finden es bei einer Hausdurchsuchung. Forster wird verhört und ausgefragt, nach Namen und auch nach sexuellen Praktiken.

Blaues Notizbuch mit handschriftlichem Etikett und roter Nummer 12.
Legende: «Meine Geliebten»: Jakob Rudolf Forster führte Buch über seine Liebschaften. Quelle: StASG KA R. 184-2

Auch einige der ehemaligen Geliebten werden vorgeladen und verhört. «Forster hat damit eine ganze Reihe von schweren Schicksalsschlägen ausgelöst», sagt Journalist und Buchautor René Hornung. Denn die mannmännliche Liebe ist zu jener Zeit ein strafbares Vergehen – ein Homosexueller ein Krimineller.

So wurde der schwule «Aktivist» bekannt

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Zwei Männer stehen draussen vor einem Haus.
Legende: Sie schrieben ein Buch über das Leben von Jakob Rudolf Forster: Der Journalist René Hornung (links) und der Historiker Philipp Hofstetter. ZVG

Der Journalist René Hornung und der Historiker Philipp Hofstetter haben zusammen ein Buch über das Leben von Jakob Rudolf Forster verfasst. Das Buch zeichnet das Porträt einer schillernden Persönlichkeit, die mit ihrem Lebenswandel die bürgerlichen Konventionen jener Zeit im ausgehenden 19. Jahrhundert sprengte und den Behörden damit ein Dorn im Auge war.

1898 publizierte Forster im Selbstverlag seine Autobiografie. Während Jahrzehnten lagerte diese – völlig unbeachtet – im Sankt Galler Staatsarchiv, bis in den 1990er-Jahren ein Archivmitarbeiter auf ein Exemplar aufmerksam wurde. Es lag in einer Schachtel, angeschrieben mit «Verwirrte Eingaben», deren Inhalt entsorgt werden sollte.

So erfuhren René Hornung und Philipp Hofstetter von Jakob Rudolf Forster. Während ihrer Recherche stiessen sie auf zahlreiche weitere Quellen, zum Beispiel Verhörprotokolle und psychiatrische Gutachten. Nur ein Foto von Jakob Rudolf Forster fanden sie nicht.

Vor Gericht verteidigt Forster sich und das Recht auf Männerliebe, den sogenannten «Uranismus». Vergeblich. Er wird – zusammen mit vier weiteren «Komplizen» – verurteilt und erhält die höchste Strafe von allen: 18 Monate Gefängnis wegen «widernatürlicher Unzucht» nach Artikel 201 des Strafgesetzes des Kanton Sankt Gallens. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass Forster wegen seiner sexuellen Neigung verurteilt wird.

Selbstbewusster Aufklärer

Geboren wird Jakob Rudolf Forster am 21. Januar 1853. Er wächst in Brunnadern auf, einem Dorf im Toggenburg. Jakob Rudolf und seine Familie – Mutter, Vater, Schwester und Halbbruder – leben in einfachen Verhältnissen, finanziell immer wieder am Limit.

Jakob Rudolf ist ein artiges Kind, aber kein besonders guter Schüler. Das Lernen fällt ihm schwer. Er spielt lieber mit Mädchen, als dass er mit den Buben herumtollt. Doch die Turner und ihrer Körper faszinieren ihn schon früh. In der Pubertät schliesslich wird ihm seine Neigung bewusst.

Männer in Badehosen an einem Steg am Wasser.
Legende: Die Männerbadeanstalt am Zürichsee war laut Jakob Rudolf Forster nicht nur ein Ort der sportlichen Ertüchtigung, sondern auch Treffpunkt für Schwule. Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, BAZ 098589

In seiner Autobiografie schreibt er: «In diesem Jahre erwachte in mir neben der Nächstenliebe auch die physische, leider aber auf eine Weise, die mir sehr unlieb war, denn ich fühlte, wie vorher, für weibliche Wesen nur lautere Freundschaft, während ich für Jünglinge innige Liebe empfand, und mehr als Freundschaft, nämlich Geschlechtsliebe».

Seine sexuelle Veranlagung bekümmert ihn, doch bald ist er überzeugt: «An mir liegt es nicht», er kann nichts für seine Neigung, sie muss etwas Angeborenes, Naturgegebenes sein.

Ein unverbesserlicher «Urning»

Im Alter von 24 Jahren lernt Forster den deutschen Juristen Karl Heinrich Ulrichs kennen. Wenige Jahre zuvor hat dieser die sogenannte «Urning-Theorie» begründet, die die Homosexualität biologisch erklärt und damit zu legitimieren versucht.

Detail einer gezeichneten Porträtgravur eines Mannes mit Bart.
Legende: Karl Heinrich Ulrichs (1925–1895) gilt heute als Vorreiter der modernen Schwulenbewegung. Imago/Album

Ulrichs setzt sich öffentlich für die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Liebe ein – es kostet ihn Ruf und Karriere, seine Forderungen finden dennoch kaum Gehör.

Forster jedoch fühlt sich durch Ulrichs bestätigt. Und inspiriert. Er beginnt, eigene Schriften und Flugblätter zu verfassen. Um zu erklären. Und aufzuklären. «Forster musste – als Mann aus der Unterschicht – kein Blatt vor den Mund nehmen», sagt Historiker Philipp Hofstetter, «einen Mann aus dem Bürgertum hingegen hätte dies die soziale Stellung gekostet».

Für die Behörden ist Jakob Rudolf Forster eine Provokation. Seine vielen Männerliebschaften, sein Aufklärungseifer und auch seine beruflichen Tätigkeiten als Honighändler und Heiratsvermittler – immer am Rande der Legalität und finanziell meist nicht sonderlich ertragreich – kommen nicht gut an. Forster passt nicht ins bürgerliche Schema eines rechtschaffenen Mannes.

Niemand will Forster haben

In den Kantonen Sankt Gallen und Zürich wird er mehrfach verhaftet und verurteilt; unter anderem wegen «Erregung öffentlichen Ärgernisses». Amtsträger – so klagt er in seiner Autobiografie – hätten ihn als «Sauhund» verunglimpft, ein Gefängnisdirektor habe ihm gar geraten, sich «aufzuhängen oder zu vergiften». Ein Jahr lang wird er sogar in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen.

Niemand will Forster haben, in Sankt Gallen, Zürich und auch in Bern scheuchen ihn die Behörden fort, Gemeinden und Städte verweigern ihm die Nieder­lassungs­be­willigung. Doch er rekurriert und protestiert, gegen jeden Strafbefehl, jede Ausweisung. Zeitweise beschäftigt sich sogar der Bundesrat mit der «Causa Forster» und verlangt von der Sankt Galler Regierung, gegen Forster «polizeilich – sei es sitten-, sei es gesundheitspolizeilich, psychiatrisch» einzuschreiten.

Vom Kriminellen zum Geisteskranken

Tatsächlich wird Forster auch in die Psychiatrie eingewiesen, insgesamt zweimal. Dort lässt man ihn von den jeweiligen Anstaltsdirektoren begutachten. Denn für die Psychiatrie sind «Urninge» interessante wissenschaftliche Objekte. Die Vertreter dieser damals noch jungen Disziplin hatten in jener Zeit – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – begonnen, mit Leuten wie Forster zu sprechen, ihnen im Gespräch «Geständnisse» zu entlocken und ihre Fälle zu dokumentieren.

Forster sei «psychisch» nicht normal, seine «conträre Sexualempfindung», also seine Homosexualität, sei pathologisch, krankhaft, steht zum Beispiel in einem dieser Gutachten über Forster. Der Urning wird also vom Kriminellen zum Geisteskranken.

Panorama eines alpinen Dorfes mit Kirche und Bergen im Hintergrund.
Legende: Hoch über dem Rheintal, abgeschieden gelegen: die Heilanstalt St. Pirminsberg auf einer Postkarte um 1900. Hier wurde Jakob Rudolf Forster psychiatrisch begutachtet. Staatsarchiv Kanton St.Gallen W238-05-04-10

Jakob Rudolf Forsters Kampf für die Anerkennung der homosexuellen Liebe ist ein Kampf gegen Windmühlen, immer wieder steht er auf der Verliererseite. Er gibt dennoch nicht auf: «Ich war, bin und bleibe Urning», diesen Satz gibt er immer wieder zu Protokoll.

Forster schaltet sich auch in die Diskussion um das erste gesamtschweizerische Strafrecht ein. Bereits seit den 1890er-Jahren wird an einem Entwurf gearbeitet, um die diversen kantonalen Strafgesetze zu vereinheitlichen. Dabei ist auch die Strafbarkeit von Homosexualität ein Thema. Forster ist sehr aktiv, will mitgestalten und schickt die neuste sexualwissenschaftliche Literatur nach Bern. Doch zu seiner grossen Enttäuschung kommt diese umgehend zurück.

1942 tritt das erste gesamtschweizerische Strafgesetz in Kraft, homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen werden legal. Forster erlebt dies nicht mehr. Er stirbt 1926, im Alter von 73 Jahren.

Buchhinweis

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Hofstetter, Philipp, Hornung, René: «Der Urning. Selbstbewusst schwul vor 1900.» Hier und Jetzt Verlag, 2024.

Radio SRF2 Kultur, Zeitblende, 25.11.24. 9:03 Uhr.

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