2018 trafen sich Musikwissenschaftlerinnen in Tübingen, um sich über die aktuelle Forschung zum russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky auszutauschen. Doch eine Präsentation kommt nicht bei allen Anwesenden gut an: Ulrich Linke spricht über die versteckte Homoerotik in Tschaikowskys Romanzen op. 73.
Nach dem Vortrag steht ein russischer Musikwissenschaftler auf und mahnt mit Vehemenz, man solle Tschaikowskys Musik nicht mit solch taktlosen Dingen überfrachten.
Das «skandalöse» Liebesleben von Schubert
Kadja Grönke forscht seit mehr als 25 Jahren zu Leben und Werk von Tschaikowsky. Die Musikwissenschaftlerin wunderte sich im ersten Moment über den kleinen Eklat.
Doch der Vorfall erinnerte sie an einen noch viel grösseren Skandal, den der Musikwissenschaftler Maynard Solomon 1989 in den USA mit einem Essay auslöste. Er stiess eine jahrzehntelange, emotionale Debatte an.
Im Essay ging es um das Privatleben des Komponisten Franz Schubert. Solomon hatte dessen schon länger vermutete Homosexualität offen thematisiert.
Der Skandal brachte die Schubert-Forschung bedeutend voran: «Anders als durch einen solchen Eklat war es in jener Zeit fast nicht möglich, verkrustete Forschungsmeinungen aufzubrechen», so Kadja Grönke.
Ein heisses Eisen für die Forschung?
Die empörte Wortmeldung an der Tagung in Tübingen zeigte, dass diese Seite der Persönlichkeit des russischen Nationalkomponisten in seiner Heimat von einigen lieber ausgeblendet wird.
In westlichen Ländern ist Tschaikowskys Homosexualität zwar längst akzeptiert. Aber auch im Westen scheint die historische Forschung nicht immer in der Lage, Homosexualität unverkrampft und sachlich zu diskutieren, obwohl viele bedeutende Persönlichkeiten der Musikgeschichte – allgemein der Kulturgeschichte – homosexuell waren. Noch heute wird dies der breiten Öffentlichkeit kaum vermittelt.
Unter Wissenschaftlern kochen die Emotionen regelmässig hoch und es scheint nach wie vor Hemmungen zu geben. Manche finden, es sei ein sehr heikles Thema. Andere sagen gar, es sei ein Minenfeld. Wie passt das zu wissenschaftlicher historischer Forschung?
In dem von Kadja Grönke herausgegebenen Tagungsbericht «Musik und Homosexualitäten» kritisiert die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger den Umgang der Musikwissenschaft mit dem Thema Homosexualität: «Es gab immer wieder heikle Konfrontationen. Eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität und Musik steht in Deutschland noch aus.»
Und in der Schweiz?
Auch die Schweiz steht noch am Anfang. Die Historikerin Corinne Rufli forscht seit Jahren zu lesbischen Frauen in der Schweiz. «Hier gibt es eine riesige Lücke, was historische Forschung mit schwuler, lesbischer oder queerer Perspektive angeht. Das grösste Problem sind die fehlenden Ressourcen und die fehlende Anerkennung.»
Corinne Rufli doktoriert im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds zur Schweizer Lesbengeschichte. Bis weit in die 1990er-Jahre wäre das undenkbar gewesen: «Ein solcher Forschungsschwerpunkt hätte eine junge Forschende um ihre Karriere bringen können.»
Die Lesben- und Schwulenforschung ist aus der Schwulenbewegung der 70er-Jahre entstanden. Erst spielte sie sich ausserhalb der Universitäten ab und damit ohne öffentliche Finanzierung. «Diese Forschung galt nicht als unterstützungswürdig, hatte keinerlei Prestige», so Rufli. «Sie hatte nicht genug Öffentlichkeit um in den Mainstream zu gelangen und blieb daher marginalisiert.»
«Queering the pitch»
Im Windschatten der Frauenforschung hat sich aber in der kulturwissenschaftlichen Forschung aus queerer Perspektive in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Nachdem Anfang der 90er-Jahre mit «Queering the pitch» ein erstes wissenschaftliches Standardwerk zu Homosexualität in der klassischen Musik erschienen war, begannen immer mehr Forschende dem Thema nachzugehen.
Sie erkannten, dass mehr Wissen zum Leben und den Lebensumständen von Kunstschaffenden wertvolle Impulse für die Rezeption von deren Kunst geben kann.
Es sei mittlerweile einfacher zum Thema zu forschen, da mehr Musikwissenschaftler sich dafür interessierten, sagt auch Kadja Grönke im Gespräch. Doch obwohl sie in einem aufgeschlossenen Forschungsumfeld arbeitet, kennt auch sie die typischen Widerstände, die bei diesem Thema immer noch existieren.
Die Werkzeuge des Straightwashing
Noch heute ist es teils schwierig an gewisse Quellen heranzukommen, zum Beispiel an einschlägige Briefe. Überhaupt sei ein grosser Teil von Tschaikowskys umfangreicher Korrespondenz noch nicht herausgegeben, geschweige denn aus dem Russischen in andere Sprachen übersetzt worden.
Das Zurückhalten oder Nicht-Herausgeben von Dokumenten und Briefen sei lange ein probates Mittel gewesen, um bestimmte Forschungsrichtungen zu ver- oder behindern, so Grönke. Nicht nur wie im Fall von Tschaikowsky in der Sowjetunion respektive im heutigen Russland, sondern auch in Westeuropa.
So sind hunderte Briefe des Komponisten Camille Saint-Saëns an seinen «Butler» Gabriel Geslin bis heute nicht zugänglich. Dabei sollen die Briefe die Intimität dieser Beziehung zeigen.
Einiges wird dank der Digitalisierung leichter zugänglich: Etwa die teils sehr explizit homoerotische Korrespondenz des Romanciers Gustave Flaubert.
Weg mit den heissen Passagen
Ein weiteres Werkzeug, um Homosexualität von berühmten Künstlerpersönlichkeiten zu verbergen, ist die gezielte Auslassung. Explizit homoerotische Partien in den Briefen zwischen der Komponistin Ethel Smyth und einer ihrer Geliebten Virginia Woolf wurden später einfach weggelassen, sprich zensiert. Andernorts machten Herausgeber selbst vor Autografen nicht Halt und strichen einschlägige Stellen durch, machten sie unkenntlich oder liessen Dokumente gleich ganz verschwinden.
Tendenziöse Herausgabe kann jahrhundertelang wirksam sein: In der Autobiografie des Renaissance-Künstlers Benvenuto Cellini wurde eine von diversen Wissenschaftlern als homoerotisch erkannte Stelle plump aber wirkungsvoll verändert: Aus einem amavo («ich liebte») wurde durch eine fremde Hand ein amazavo (eigentlich ammazzavo, «ich tötete») gemacht.
Johann Wolfgang von Goethe übersetzte es später glatt falsch auf Deutsch. Plötzlich liebte Cellini nicht mehr jeden zweiten Tag einen jungen «Pfauen», sondern schoss und ass ihn. Keine kleine Sache: der homosexuelle Bildhauer verwendete nämlich auch anderorts Vögel als Code für Männer.
Diese Stelle war für die spätere Forschung um Schuberts Liebesleben wichtig. Denn auch er bedurfte laut einem Freund «junger Pfauen».
Heterosexuell zurechtgebogen
Anderswo wurde ebenso gnadenlos frei übersetzt: Männliche Pronomen in Liebessonetten von Michelangelo Buonarroti an Tommaso de’ Cavalieri wurden von Verlegern in weibliche umgewandelt, um die Liebe der beiden Männer zu vertuschen. Solche Übersetzungs-«Fehler» finden sich auch in der Korrespondenz Frédéric Chopins mit seinem Geliebten Tytus Woyciechowski.
Unausgewogenes Zitieren aus Schriften berühmter homosexueller Persönlichkeiten, unkritisches Verbreiten von Falschinformationen oder das Verbiegen von Biografien seien lange praktiziert worden, so Kadja Grönke: «Das ist schon sehr weit weg von unserem heutigen Wissenschaftsverständnis. Auf diese Weise liesse sich selbst aus Tschaikowsky ein heterosexueller Komponist machen».
So wurden bei verschiedenen Komponistinnen intensive Beziehungen zum gleichen Geschlecht marginalisiert, ganz ausgeblendet oder umgedeutet, und im Gegenzug unbedeutende Kontakte zum anderen Geschlecht zu heterosexuellen Affären oder grossen, unglücklichen Liebesbeziehungen aufgebläht.
Eine unkritische Schwachstelle
Generell fällt auf, dass für viele Forschende deutlich schwächere Hinweise genügen, um eine heterosexuelle Liebe als erwiesen anzusehen. Um hingegen eine homosexuelle Beziehung nur schon in Betracht zu ziehen, sind für manche Forschende selbst erdrückend viele Indizien oder gar eindeutige Aussagen der Komponierenden nicht ausreichend.
So peinlich genau für neue Ausgaben von Musiknoten also jedes Mal Quellen und Autografe aufs Neue konsultiert und abgewogen werden, jeder Ton und jedes Vorzeichen anhand mehrerer Quellen überprüft wird, so unkritisch werden teilweise Gerüchte und unbelegte Geschichten zum Privatleben von Komponierenden einfach übernommen oder gar fantasievoll ausgebaut.
Privatsache und Selbstzensur
Dass die Musikwissenschaft auch heute noch heteronormativ geprägt und latent homophob ist, zeigt sich auch an dem fortwährend vorgebrachten Argument, homosexuelle Beziehungen seien Privatsache – während bei heterosexuellen Künstlern der Name der (Ehe-)Partnerin stets ungeniert genannt wird.
Eine Biographie über W. A. Mozart ohne Erwähnung seiner Frau Constanze? Undenkbar. Der Lebensgefährte des grossen Avantgardisten Pierre Boulez, Hans Messner, wird hingegen bis heute kaum als solcher bezeichnet, vielmehr wurde Messner meist als Boulez’ Butler wahrgenommen.
Viele Homosexuelle zensierten ihre Beziehungen auch selbst, um sich - je nach Jahrhundert - vor Bestrafung oder vor gesellschaftlicher Ächtung zu schützen. Sie zerstörten Dokumente oder gingen zur Tarnung formale Beziehungen oder Ehen ein, um sich Freiraum zu schaffen.
Sie wehrten so Gerüchte über Homosexualität ab und lebten ihre Liebe im Verborgenen aus, wie Siegfried Wagner oder Vladimir Horowitz. Manche wohnten oder vermählten sich mit einer homosexuellen Person des anderen Geschlechts, wie Erika Mann oder Vita Sackville-West.
Das (Liebes-)Leben gibt Kontext
Die Erforschung des Privatlebens einer Künstlerpersönlichkeit sollte heutzutage zu einem klareren und wahrheitsgetreueren Bild führen. Die Zeit von romantisierenden Fantasiebiografien dürfte in einer Welt mit ständig griffbereiten Online-Informationen gezählt sein.
Das Wissen um die Homosexualität von Kulturschaffenden kann dem Publikum darüber hinaus das Werk näherbringen. Es kann dazu beitragen, Bedeutung, Kontext oder verborgene Botschaften besser zu verstehen – und gegebenenfalls auch die Sprengkraft der Werke.
Der homosexuelle Komponist Hans Werner Henze sagte 1972 in einem Interview: «Ich glaube, dass man meine Musik einfach nicht erklären kann, wenn man dieses Element ausser Betracht lässt. Es ist selbstverständlich massgebend, die emotionalen Gründe für ein Kunstwerk sind wichtig.» Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus verneinte demgegenüber 1975 in «Wozu noch Biographien?» jeglichen relevanten Bezug zwischen Biografie und Werk.
Homoerotik bis in die Sixtinische Kapelle
Henzes Homosexualität hat jedenfalls diverse seiner Werke geprägt: Die Gitarrenstücke für den neapolitanischen Gitarristen Fausto Cigliano, in den er verliebt war. Aber auch die Vertonungen homoerotischer Stoffe und Texte (z.B. Apollo et Hyazinthus) oder das «Elogium Musicum», mit welchem er seinem Lebenspartner Fausto Moroni nach dessen Tod musikalisch ein Denkmal setzte. Gar in Musik ohne Text wob er homoerotische Inhalte ein, zum Beispiel ins Klarinettenkonzert «Le Miracle de la Rose».
Henze ist bei weitem nicht der Einzige: Viele Lieder von Benjamin Britten wären ohne seine Beziehung zum Tenor Peter Pears in dieser Form nicht entstanden, und Michelangelo hätte vielleicht nicht unbedingt küssende Männerpaare ganz offensichtlich an die Wand der ehrwürdigen Sixtinischen Kapelle gemalt.
(Noch) nicht frei von Vorurteilen
Die Gesellschaft ist in vielen Ländern mittlerweile so weit, dass offen über Homosexualität gesprochen werden kann. Dadurch ist es auch für die Queer Studies, die Schwulen- und Lesbenforschung einfacher geworden.
Trotzdem gibt es noch Hemmungen und Vorurteile, wie Kadja Grönke erzählt: «Wenn jemand zu Nationalsozialismus forscht, fragt man ihn ja auch nicht: Bist Du ein Neonazi?» Nach Homosexualität forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hingegen werden nach wie vor manchmal als «einem Homosexuellen-Lager zugehörig» bezeichnet.
Wer darf Geschichte schreiben?
Straightwashing oder Homophobie ist aber nicht nur in der Musikwissenschaft anzutreffen, sondern auch in anderen Forschungsrichtungen. Zum Beispiel in der Sportgeschichte: «Nicht nur die Kulturwissenschaften haben ein Homophobie-Problem», so Corinne Rufli, «sondern die Gesellschaft hat eins. Wir müssen uns immer fragen: Wer darf Geschichte schreiben, welche Forschung ist in unserer Gesellschaft eigentlich förderungswürdig, und wer entscheidet darüber?»
Ein Grossteil der historischen Forschung scheint heute noch heteronormativ und patriarchal geprägt. Es stellt sich die Frage, ob die Schweiz im Jahr 2022 bereit ist, hier Platz zu schaffen für feministische und queere Perspektiven.