«I am Lila Iké – I am into Women and I’ve been making Reggae Music»: In einem Tweet vom November 2021 outete sich die aufstrebende jamaikanische Sängerin als lesbisch. Ein Wendepunkt? Der Twitter-Post könnte dazu beitragen, die Reggae- und Dancehallszene von ihrer Homophobie zu befreien.
Nichts mit «One Love»
Homophobe Texte waren im Dancehall-Genre weit verbreitet. Zwar trugen einst Bob Marley, Jimmy Cliff und Peter Tosh Reggae aus Jamaika in die Welt und standen inhaltlich für gleiche Rechte und universale Einheit.
Doch in den 1990er-Jahren fielen zahlreiche bekannte Dancehall- und Reggae-Künstler mit diskriminierenden Texten auf: Sie zerstörten damit das «One Love»-Image des Reggaes in der öffentlichen Wahrnehmung komplett.
Lila Ikés Tweet ist aber nur einer von zwei Gründen, weshalb in Jamaika in den letzten Wochen über Homophobie gesprochen wird. Auch Spice, momentan eine der erfolgreichsten Dancehall-Künstlerinnen Jamaikas, löste eine Diskussion in den sozialen Medien aus. Die Musikerin wurde an einem LGBTQ-Event in Kanada für einen Auftritt gebucht und dafür von ihren männlichen Kollegen öffentlich angefeindet.
«Zieh deinen Turban aus und tanz mit mir»
Der bekannte Reggae-Sänger und Rastafari Sizzla Kalonji veröffentlichte nach Bekanntwerden des Auftritts eine Erklärung, in welcher er behauptete, Spices Zusage an diesem Event sei «gegen die Jamaikanische Kultur».
Vermutlich erhoffte sich Sizzla damit Zuspruch. Der Grossteil der Reggae und Dancehall-Fans applaudierte aber für die Dancehall-Künstlerin, welche den Angriff mit viel Wortwitz konterte: «Zieh deinen Turban aus und tanz mit mir!»
Der Tenor in Jamaika und in den sozialen Medien war danach fast überall der Gleiche: «Uns ist es egal, wo Spice ihr Geld verdient und mit wem Lila Iké ins Bett steigt. Hauptsache, sie machen weiterhin gute Musik».
Mit homophoben Zeilen ins neue Jahrtausend
Dass sich Fans und Exponenten der Reggae- und Dancehall-Szene auch nur ansatzweise auf die Seite von Queers stellen, wäre vor kurzem noch undenkbar gewesen.
Explizit homophobe Textzeilen in Songs um die Jahrtausendwende grenzten nicht nur Lesben und Schwule in Jamaika aus, sondern verbauten dem Reggae auch den Weg zu Sponsoren, grossen Festivals, Plattenfirmen und in die Medienwelt.
Auftrittsverbote in Europa und Boykotte waren die Folge. Der Höhepunkt wurde Ende der Nuller-Jahre erreicht, als in Europa eine Reihe von Konzerten abgesagt wurden.
Die Reggae- und Dancehall-Szene macht auf
Jetzt wo sich grosse Namen des Genres entweder selbst outen oder an einem LGBTQ-Event auftreten, scheint sich Jamaika und die Reggae- und Dancehall-Szene endlich zu öffnen. Die selbsternannten Pförtner der Kultur, die jetzt noch dagegen antreten, stehen je länger je mehr alleine da mit ihrer Homophobie.
Weder Spice noch Lila Iké wurden angefeindet oder kritisiert – im Gegenteil. Die Musiker vor den Tonstudios in Kingston standen fast unisono zu Spice und Lila Iké. Auch die Hörerinnen und Hörer, die sich bei 105 Edge, einer der grossen Radiostationen Jamaikas meldeten, zeigten sich erfreut über die Entwicklung.
Sogar der Dancehall-Künstler Bounty Killer, der in der Vergangenheit mit hetzerischen Textzeilen gegen Schwule aufgefallen war, stellte sich jüngst hinter Spice. Auf seinen Kanälen nannte er sie die «beste Künstlerin im Dancehall».
Jamaika schielt auch in die USA
Es ist nicht so, dass durch Lila Ikés Outing oder den Auftritt von Spice und den positiven Reaktionen aus Jamaika plötzlich eine aufgeschlossene Gesellschaft geworden wäre. Die jamaikanische Musikszene schielt aber auch immer mit einem Auge nach Amerika: Das US-Rap-Geschäft verabschiedet sich immer deutlicher vom Hass gegen Queers, auch mit dem Outing prominenter Rapper. Frank Ocean bekannte sich schon 2012 zur Bisexualität, Lil Nas X outete sich 2019 als schwul.
Jetzt öffnet sich auch die jamaikanische Musikszene mehr und mehr. Dank Lila Iké und Spice scheint die weit verbreitete Homophobie in der jamaikanischen Gesellschaft angezählt.
Es wäre auch eine Erlösung für viele Reggae- und Dancehall-Fans in Europa: Man könnte endlich auch hierzulande bedingungsloser Fan dieser Musik sein.