Der Auftritt der deutschen Influencerin und Rapperin Shirin David in «Wetten, dass..?» Ende November sorgte für Gesprächsstoff. Beim Plaudern auf dem Sofa offenbarte die 28-Jährige, dass sie Opern mag. Showmaster Thomas Gottschalk meinte darauf, so hätte er sie nicht eingeschätzt.
Auch die Feministin hätte er ihr nicht angesehen, so der 73-Jährige. «Warum denn nicht? Weil ich gut aussehe?!», antwortete Shirin David selbstbewusst und hatte damit den Applaus des Publikums sicher.
Seien wir ehrlich: Was Thomas Gottschalk passierte, hätte auch vielen anderen passieren können. Er hat sein Gegenüber aufgrund des Äusseren falsch eingeschätzt.
Hyperfeminismus ist die bewusste Überzeichnung herkömmlicher Weiblichkeitsbilder.
Die Gleichung «aufgebrezelt und schönheitsoperiert = kann man nicht ernst nehmen» ist tief verankert in unserer Gesellschaft. Doch diese Gleichung ist kreuzfalsch. Das macht eine neue Generation von Feministinnen allzu deutlich. Shirin David ist eine von ihnen.
Überbetonte Weiblichkeit
Der Hyperfeminismus zelebriert eine überbetonte Art von Weiblichkeit: aufgespritzte Lippen, straffoperierte Gesichter, silikonoptimierte Körper, blondgefärbte Mähne und knappe Outfits in Glitzer. Was früher oft belächelt und nicht ernst genommen wurde, wird heute selbstbewusst gefeiert.
«Hyperfeminismus überzeichnet herkömmliche Weiblichkeitsbilder bewusst und zeigt damit auf, dass diese aktiv hergestellt und inszeniert werden, also nicht einfach naturgegeben sind», sagt Dominique Grisard, Geschlechterforscherin und Historikerin an der Uni Basel.
Grisard deutet den Hyperfeminismus als Gegenreaktion: «Die Gesellschaft hat überbetonte Weiblichkeit lange abgewertet. Wenn Hyperfeministinnen nun genau diese Stereotypen feiern, dann ist das eine Selbstermächtigung.» Von dieser Selbstermächtigung sollen nicht nur die Hyperfeministinnen, sondern alle profitieren, so das Anliegen. Jeder Mensch solle unabhängig davon beurteilt werden, wie er sich kleidet und zeigt.
Kein neues Phänomen
Die Bezeichnung Hyperfeminismus ist neu, das Phänomen ist es nicht. Schon die Queen of Pop Madonna wusste in den 1980er- und 1990er-Jahren, wie man weibliche Stereotypen gekonnt einsetzt, um damit Aufmerksamkeit zu generieren.
Madonnas beispiellose Karriere macht denn auch deutlich, dass Kleidungsstil und Aussehen noch nie als deckungsgleich mit Intelligenz gedeutet werden durften.
In Zeiten schnelllebiger Social-Media-Plattformen ist Aufmerksamkeit ein wichtiges Gut und ein Geschäftsmodell geworden. Geschlechterforscherin Dominique Grisard attestiert den Hyperfeministinnen ein grosses Bewusstsein darüber, wie die kurze Aufmerksamkeitsspanne möglichst effizient genutzt werden kann.
«Sie wissen, wie Medien und Technologien funktionieren und wie sie Blicke leiten können. Nicht nur die männlichen.» Wer attraktiv ist, bekommt Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit bedeutet Macht. So die Medienlogik.
Weiblichkeit als Geschäft
Mit einem sexuell aufgeladenen Erscheinungsbild lässt sich prima Geld erwirtschaften. Künstlerinnen wie Lizzo, Nicki Minaj und Shirin David haben begriffen, dass sich künstliche Wimpern und ultrakurze Miniröcke aufs Portemonnaie auswirken. Das ist nicht per se verwerflich. Geld müssen fast alle verdienen.
Der Hyperfeminismus spricht sich nicht gegen Konsum aus und ist meistens auch nicht marktkritisch.
Allerdings liege hier ein wesentlicher Unterschied zu anderen Feministinnen, sagt Geschlechterforscherin Dominique Grisard. «Andere Feminismen hinterfragen die Logik des Marktes oder lehnen sie ab. Der Hyperfeminismus spricht sich nicht gegen Konsum aus und ist meistens auch nicht marktkritisch.»
Influencerin der ersten Stunde
Wenn eine die Klaviatur der Medienlogik beherrscht, dann Shirin David. Barbara Schirin Davidavičius wird 1995 in Hamburg als Tochter einer Litauerin und eines Iraners geboren. In jungen Jahren lernt sie Klavier, Geige und Oboe spielen und besucht die Jugend-Opern-Akademie in Hamburg. 2014 eröffnet David ihren YouTube-Kanal und gehört zu den Influencerinnen der ersten Stunde. In ihren Videos spricht sie über Schönheitschirurgie, gibt Beauty-Tipps und scheffelt damit früh Geld.
Davids Themenfokus auf Äusserlichkeiten lässt gestandene Feministinnen vielleicht die Nase rümpfen. Aber eigentlich liesse sich diese Themenwahl auch als Ermächtigung lesen. Frauen wurden jahrhundertelang auf ihr Äusseres reduziert und in die Beauty-Ecke verbannt. Warum sollen sie sich also dieses stereotype Klischee nicht aneignen und damit Geld verdienen?
Das gemachte Produkt
Nebst ihren Aktivitäten in sozialen Medien taucht Shirin David auch früh im Musikumfeld auf. 2019 erscheint ihr Debütalbum «Supersize». Es erreicht Platz eins in den deutschen Albumcharts, was vorher noch keiner deutschen Hip-Hop-Musikerin gelungen ist.
Aufgrund ihrer Aktivitäten als Influencerin war Shirin David schon vor ihrem Karrierestart als Rapperin berühmt. Böse Zungen unterstellen ihr deswegen, dass sie nur ihre Berühmtheit und ihr Aussehen zur Verfügung stelle und sich von männlichen Produzenten zu einem Rap-Produkt machen liesse. Von weiblicher Emanzipation könne hier keine Rede sein.
Im Deutschrap schon fast eine Revolution
Dagegen sprechen mehrere Aspekte. Zum einen zeigt Shirin Davids Vergangenheit, dass sie durchaus eine Ahnung von Musik hat. Ausserdem sei ihr Rap in puncto Technik und Lyrik ernst zu nehmen, sagt SRF-Hip-Hop-Expertin Mira Weingart.
«Shirin David hat von Anfang an transparent gemacht, dass sie nicht alle Texte selbst schreibt. Das ist im Rap so üblich, bloss wird es oft vertuscht.» Dass die Songs gut ankommen, zeigen ihre Streaming- und Charterfolge. Ausserdem hat David mit «Lächel doch mal» einen Song herausgegeben, der sich gegen Misogynie, Objektifizierung von Frauen und sexuelle Übergriffe ausspricht.
Es gelte auch den Kontext zu beachten, sagt Mira Weingart. «Shirin David bewegt sich im Deutschrap nicht nur in einer Männerdomäne, sondern auch in einer extrem konservativen Szene, in der viele fast noch mittelalterliche Werte vertreten.» Da komme ein Song wie «Lächel doch mal» schon fast einer Revolution gleich.
Hyperfeminin: sexy und selbstbewusst
Frauen wie Madonna und Pamela Anderson haben mit einer hyperfemininen Ästhetik eine neue Form von Feminismus eingeläutet. Den lebt eine jüngere Generation weiblicher Popstars nun sehr selbstbewusst aus.
Wenn sich Frauen überbetont weiblich herrichten, um sich selbst zu gefallen, oder daraus Geld zu schlagen: Wer will es ihnen verübeln? Wenn aus Hyperfeminismus resultiert, dass Menschen generell weniger aufgrund ihres Äusseren beurteilt werden, dann lasst uns alle Hyperfeministinnen und Hyperfeministen werden!
Die Kehrseite
Dennoch hinterlässt der Look der Hyperfeministinnen ein zwiespältiges Gefühl. Denn es ist einer, der von einer patriarchalen, heterosexuellen Perspektive geprägt und als «schön» definiert wurde. Es ist ein übersexualisierter Look, der ewig pralle und glatte Haut propagiert und damit Natürlichkeit als unnatürlich abtut. Das freut vor allem die Schönheitsindustrie.
Doch: Der Feminismus und die Deutungshoheit, was Feminismus darf oder eben nicht darf, existieren nicht in unserer postmodernen Welt. Es gibt Feminismen mit unterschiedlichen Ausprägungen. Im Kern verfolgen sie alle das gleiche Ziel: Ermächtigung. Das gilt es wertzuschätzen. Alles andere ist letztendlich Kosmetik.