Für die Gesellschaft sei Empörung «etwas Treibendes für Veränderung», sagt Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Viele soziale Bewegungen, etwa die Frauenbewegung, seien von Empörung über Ungerechtigkeit getrieben.
Durch die Aufregung gliedert sich das Individuum in Gruppen ein: «Wir können dadurch unsere Positionierung unterstreichen. Wir äussern Meinungen, von denen wir denken, dass sie in der Gruppe gut ankommen.»
(Un)erwünschte Aufreger
Aber nicht alle Aufreger seien gleich erwünscht, betont Ullrich: «Für die Eliten stellt sich die Frage: Wie verhindern wir, dass sich die Leute in eine Richtung empören, die die Stabilität der Gesellschaft in Frage stellt?» Gewünscht sei «Scheinempörung», die sich auf Nebenschauplätzen abspielt und die herrschenden Erzählungen nicht in Frage stellt.
Etwa die Idee, dass jeder seines Glückes Schmied ist. «Das bedeutet, dass man nicht auf die Bedürftigkeit von Personen Rücksicht nehmen muss, denn im Grunde sind alle ja selbst verantwortlich», sagt Ullrich. Denn: Rege sich jemand darüber auf, dass Menschen auf der Strecke bleiben, sei das gefährlich.
«Die Eliten aus Politik und Wirtschaft lenken deshalb die Aufregung auf Unwichtigeres, etwa auf die Welt des Showbusiness und des Sports», sagt Johannes Ullrich. Dabei würden Zusammenhänge zwischen den Meldungen entfernt und Informationen häppchenweise aufgetischt.
Einem Aufreger folgt schnell der nächste, der übernächste … Das Publikum hat seine Meinung sofort parat. Das gefährde die Demokratie, denkt Ullrich. Denn Demokratie beruhe auf dem Verhandeln von Argumenten. Nicht auf Meinungen, die man einander vor den Latz knallt.
Polarisierung durch Emotionalisierung
Auch der Berliner Philosoph Philipp Hübl beschäftigt sich mit Aufregung. Sein Buch «Die aufgeregte Gesellschaft» handelt vom Verhältnis von Emotionen, Moral und Vernunft.
Hübls Eindruck: Die Sichtbarkeit der Aufregung hat zugenommen, weil man die Wut in den sozialen Medien kommunizieren kann.
Die Daueraufregung diene dazu, Gleichgesinnte zu finden. Hübl verweist auf Studien, gemäss denen es den Menschen wenig wichtig sei, dass die Mitglieder ihrer Gruppe besonders freundlich, intelligent oder anständig seien.
«Das Wichtigste ist immer, dass sie die gleichen Werte und Normen teilen.» Weil in den sozialen Medien gemässigte Äusserungen wenig Beachtung finden, positionieren sich die Leute radikaler als im analogen Leben. Damit sie wahrgenommen werden. So radikalisieren sich alle Gruppen, Linke wie Rechte, Veganerinnen wie Abtreibungsgegner, Velofahrerinnen wie Impfgegner.
Einzelpersonen diskutierten meist konstruktiver als Leute, die sich einem dieser neuen Stämme zuordnen, sagt Hübl. Diese «Retribalisierung» polarisiere die Gesellschaft.
Mühe mit den Graustufen
Moralische Fragen seien jedoch komplexer als ein Pro-und-Contra-Gefecht, sagt Philipp Hübl, betont aber: «Menschen ist es in allen Epochen schwergefallen, mit moralischen Graustufen umzugehen.»
Die Aufregung sei ein moralischer Zorn, hält Hübl fest. Die Empörung nehme uns das Urteil ab, das wir sonst aus der Vernunft herleiten müssten. Zum Glück sei der Mensch aber fähig, automatisierte Urteile zu revidieren. Vorurteile und Prägungen lassen sich überdenken und überschreiben.
Dass Hübl der Vernunft so viel Kraft beimisst, kann einen inmitten der gegenwärtigen Daueraufregung hoffnungsvoll stimmen.