Sommer ist, wenn man sich so fühlt. So sehen das die Isländerinnen und Isländer – und Ólafur Hardarson ganz besonders: Der emeritierte Politikprofessor der Isländischen Universität in Reykjavík trägt nämlich den ganzen Sommer über kurze Hosen.
«Der isländische Sommer dauert von Ende April bis Anfang November», macht Hardarson beim Gespräch im Liegestuhl auf der Wiese vor dem isländischen Parlament deutlich. Da stört auch das bald einsetzende Juni-Schneetreiben nicht.
Von der Arbeit der Volksvertreterinnen und Volksvertreter ist Hardarson nur bedingt beeindruckt: «Die meisten Ideen und Vorschläge im Parlament sind wenig praxistauglich.»
So zum Beispiel das revidierte Wahlgesetz, das bei der jüngsten Präsidentschaftswahl zur Anwendung kam: «Weil es bei den letzten Parlamentswahlen in einem abgelegenen Wahllokal im Norden zu einer falschen Berechnung der Stimmen kam, wurde die Auszählung neu auf wenige Auszählorte zentralisiert.»
Die Folge: Tausende Wahlzettel mussten nach Schliessung der Wahllokale mitten in der Nacht kreuz und quer durch Island verschifft, gefahren und geflogen werden. In dem fast ständig irgendwo von Erdbeben, Überflutungen, Vulkanausbrüchen und Schneestürmen heimgesuchten Land keine sonderlich gute Idee.
«Ich sah grosses Potenzial»
Doch die Isländerinnen und Isländer sind Weltmeister im Ausprobieren von Neuem. Das macht auch ein Besuch auf der anderen Seite des Landes deutlich: Einst war das Küstenstädtchen Seydisfjördur der Heimathafen der mächtigen und lukrativen isländischen Heringsflotte. Zudem diente der geschützte Naturhafen der britischen und amerikanischen Marine im Zweiten Weltkrieg als wichtiger Stützpunkt.
Als Nachfahrin einer aus Seydisfjördur stammenden Familie entdeckte Sesselja Hlín Jónasardóttir die abgelegene Ortschaft – die der auch von SRF ausgestrahlten Krimiserie «Trapped» als Kulisse dient – während der Pandemie neu: «Ich sah ein grosses Potenzial und machte mich an die Arbeit.»
Mit Unterstützung von Freunden übernahm die 38-Jährige die Leitung des Kulturhauses «Herdubreid», eröffnete ein Kino, verwandelte die ausgestorbene Hauptgasse in eine fotogene Kulturmeile mit Regenbogenpflaster und lancierte ein lokales Besuchsprogramm für Kreuzfahrtgäste.
«Zuvor bestiegen diese Gäste nach ihrer Ankunft sofort Busse und fuhren in die Berge oder zu einem Gletscher», sagt die gelernte Massschneiderin und Enkelin eines lokalen Handwerkers, der an den meisten der heute in Seydisfjördur stehenden Gebäuden mitgewirkt hat.
Die «Blaue Lagune» in Gefahr
Familienbanden spielen im Inselstaat am Polarkreis bis heute eine sehr wichtige Rolle: «Wir sind zwar wenige, aber nie allein.» Tatsächlich ist ein derart grosser Anteil der Isländerinnen und Isländer miteinander verwandt, dass in der populären Dating-App «IslendingaApp» eine Inzest-Warnfunktion eingebaut worden ist.
Dies kümmert den Vulkanologen Ármann Höskuldsson kaum, denn er träumt davon, mehr Zeit in der grossen Einsamkeit verbringen zu können. Seine Lieblingsbeschäftigung ist «die Analyse von bis zu 20 Millionen Jahren alten Lava-Ablagerungen».
Stattdessen muss sich der 64 Jahre alte Vulkanexperte gegenwärtig fast rund um die Uhr mit den Folgen des jüngsten Ausbruches vor der eigenen Haustür beschäftigen: «Diese ständigen Eruptionen rauben mir wertvolle Zeit für meine Forschung», ärgert sich Höskuldsson.
Seit gut acht Monaten kommt es bei den Sundhnúks-Kratern südlich der Hauptstadt Reykjavík auf der Halbinsel Reykjanes immer wieder zu massiven Ausbrüchen, bei denen Millionen von Tonnen glühender Lava an die Oberfläche gelangen.
«Nach gut 800 Jahren Ruhe stehen wir nun am Anfang einer viel aktiveren Epoche», ist Ármann Höskuldsson überzeugt. Für die bereits mehrfach wegen der Ausbrüche evakuierten Küstenstadt sieht er schwarz: «Wiederholt sich dieses Spektakel noch drei- bis viermal, ist die Stadt verloren.»
Gut 4000 Menschen lebten bis letztes Jahr in dieser für die isländische Fischwirtschaft wichtigen Ortschaft unweit des internationalen Flughafens Keflavik und der Touristenattraktion «Blaue Lagune».
Sein Büro ist mit Forschungsberichten, Gesteinsproben und Grafiken gut gefüllt. Benannt ist das Forschungszentrum nach Askja, dem grössten – derzeit aber schlummernden – isländischen Vulkan. Hier verbreitet der Vulkanologe trotzdem Zuversicht: «Wir sind ein lösungsorientiertes Volk mit einer grossen Zukunft», sagt Ármann Höskuldsson.
Er glaubt, dass sich die Einwohnerzahl des Landes in den kommenden Jahrzehnten bis auf über eine Million Menschen verdreifachen könnte. Denn: «Wir haben den Platz, die Energie und den Willen.»
Ein Ökobauernhof in der Tundra
Einen grossen Willen spürt auch Eymundur Magnússon – auch schon in seinen ganz jungen Jahren: «Als siebenjähriger Schulbub in Reykjavík entschied ich mich, Bauer zu werden.» Beim Treffen mit ihm und seiner Frau Eygló im überdachten Weingarten des Hofes in Vallanes am Lagarfljót-See im Osten der Insel erfährt man: Hier glich die Landschaft noch vor wenigen Jahrzehnten einer unbewohnten Tundra, in der einige wenige Schafhirten mit ihren Herden die kargen Böden auslaugten.
Ich denke bei allem auch an die nächsten 50 Jahre.
Jetzt steht hier der grösste Wald der langen baumlosen Insel und es wachsen jede Menge Gemüse und Früchte. Eymundur kaufte in den 1970er-Jahren einem Pfarrer das Land in Vallanes ab und pflanzte seither mehr als eine Million Bäume.
Heute ist er gemeinsam mit Eygló – die als Weinhändlerin lange in Italien lebte – Islands führender Ökobauer. Das Wagnis, immer wieder Neues auszuprobieren, gehört auch für Eymundur und Eygló zur Lebensweise – allerdings ohne den Blick fürs Grosse und Ganze zu verlieren: «Ich denke bei allem, das ich mache, auch an die nächsten 50 Jahre», betont Bauer Magnússon. Sein Wald bindet heute jährlich tausende Tonnen CO₂ und trägt damit zum Schutz der einzigartigen isländischen Natur bei.
Klänge im Kristallpalast
Im nordwestisländischen Borgarnes – dort, wo sich zur Wikingerzeit Dichter isländischer Sagas wie Egil Skallagrímsson aufhielten – wuchs in den 1980er-Jahren Anna Thorvaldsdóttir auf: «Wir hatten in unserem Dorf eine tolle Musikschule mit einer fantastischen Lehrerin aus Polen», erinnert sich die isländische Komponistin.
Wenige Tage vor der Premiere ihres neuen Werkes «Metaxis» flaniert sie durch die Wandelhalle des Reykjavíker Konzerthauses Harpa. «Mit diesem Werk möchte ich die vielen grandiosen Eindrücke aus meiner Kindheit vermitteln», sagt Thorvaldsdóttir. In diesem Herbst wird sie in der Zürcher Tonhalle als Creative Chair wirken – mit dem Versprechen, viele isländischen «Soundscapes» mitzubringen.
Mit der Komposition «Metaxis», die am 1. Juni Urpremiere hatte, probiert Thorvaldsdóttir etwas ganz Neues aus: ein Stück für ein «zersetztes» Orchester, dessen Mitglieder umgeben von neugierigen Zuhörenden an ganz verschiedenen Orten und auf verschiedenen Ebenen zu einem Ganzen zusammenwirken.
Von der Eiskönigin zur Präsidentin?
Der 1. Juni bildete auch für eine anderweitig bekannte Isländerin eine echte Zäsur: Bei den Präsidentschaftswahlen gehörte Ásdís Rán Gunnarsdóttir zu den letzten im Rennen verbliebenen Anwärterinnen und Anwärtern aufs höchste Staatsamt.
Aufgewachsen ist sie im Reykjavíker Betonvorort Breidholt – «Islands einzigem Ghetto», so die 44-Jährige. Als Tochter einer alleinstehenden Mutter schlug sich Ásdís Rán Gunnarsdóttir unter dem Künstlernamen «Icequeen» als Glamourmodell und Reality-Show-Star durchs Leben – und hatte ihren Lebensmittelpunkt in den vergangenen 15 Jahren in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.
Doch dann rief der abtretende bisherige Staatspräsident Gudni Jóhannesson in seiner Neujahresansprache die Isländerinnen und Isländer im In- und Ausland dazu auf, sich für das Amt als Staatspräsident zu bewerben – und viele folgten dem Ruf, darunter auch ein Gletscher (über eine Umweltaktivistin) und eben auch die «Eiskönigin».
«Ich habe gelernt, Island im Ausland zu vertreten», sagt die Mutter von drei Kindern beim Gespräch in einem Reykjavíker Nachtklub, wo später am Abend die grosse Wahlparty steigen soll. Und – so machen Posts in den sozialen Medien Stunden später deutlich – kräftig gefeiert wurde, auch wenn der Anteil der selbstbewussten Präsidentschaftskandidatin mit 0.2 Prozent der Stimmen durchaus noch Luft nach oben gehabt hätte.
Ásdís Rán Gunnarsdóttir ist nach geschlagener Schlacht überzeugt: «Das hat Spass gemacht. In den kommenden 30Jahren werde ich bei jeder Präsidentschaftswahl antreten».