Als es vor drei Jahren losging, hatten alle noch viel Freude. Im Gebirgszug Fagradalsfjall sprudelte im März 2021 plötzlich die Lava aus einer Spalte. Der Vulkan zog Schaulustige aus dem In- und Ausland an.
«Es sah so wunderschön aus», erinnert sich Birgitta Friðfinnsdóttir. Sie wohnte mit ihrer sechsköpfigen Familie in der Kleinstadt Grindavík, nur wenige Kilometer vom Ausbruchsort entfernt. «Wir haben einen Vulkan im Hinterhof», hat sie ihren Verwandten am Telefon gesagt und sie nach Grindavík eingeladen, um gemeinsam den Vulkan zu besichtigen.
Erdbeben und Spalten als Vorboten
2022 und 2023 wiederholte sich das Spektakel. Im Fagradalsfjall gab es erneut Ausbrüche. Sie wurden von tausenden Besuchern hautnah mitverfolgt, in sicherer Entfernung von Siedlungen, Strassen und Leitungen. Das hat sich im Herbst 2023 komplett verändert. Plötzlich war Grindavík direkt betroffen, wo die Familie von Birgitta und 4000 weitere Einwohnerinnen und Einwohner ihr Zuhause haben.
Es gab über Monate immer wieder Erdbeben und der Boden begann sich zu bewegen. Teile des Dorfes sackten ab, andere stiegen. Am 10. November 2023 kam es zu massiven Erdbeben. «Das war ein schrecklicher Tag», erinnert sich Stefán Jónsson. Er ist Fischer und hatte nach dem Beben zwei Tage lang das Gefühl, keinen sicheren Boden mehr unter den Füssen zu haben.
Die ganze Stadt wurde nach den Beben evakuiert und zur Sperrzone erklärt. Überall in der Stadt kam es zu massiven Veränderungen: Auf Strassen, in Häusern und in den Gärten öffneten sich Risse und Spalten. Schon jetzt ist klar: Viele Gebäude müssen abgerissen werden, zu gross sind die strukturellen Schäden.
15 Kilometer langer Riss
Was sich unter Grindavík am 10. November abspielte, hat ein Team des Geophysikers Freysteinn Sigmundsson von der Universität Island näher untersucht. «Unsere Messungen zeigten Bodenverschiebungen im Bereich von Metern, innert weniger Stunden», sagt er gegenüber SRF.
Die Erklärung: In rund vier bis fünf Kilometern Tiefe unter der Region von Grindavík befindet sich eine Magmakammer, die aus dem Erdinnern mit frischer Magma gespiesen wird. Durch den wachsenden Druck steigt das Magma nach oben in die Erdkruste. Am 10. November hat sich dann ein Riss schlagartig ausgeweitet. Er ist rund 15 Kilometer lang und verläuft quer durch Grindavík.
Strassen und Häuser betroffen
Durch diesen Riss steigt seither immer wieder Magma auf und tritt – bei genügend Druck – an der Oberfläche aus. Erstmals geschah dies dann am 18. Dezember. Seither kam es zu drei weiteren Ausbrüchen. Und zum ersten Mal seit 50 Jahren war dabei auf Island auch wieder Siedlungsgebiet betroffen.
Mitte Januar 2024 stiess ein Lavastrom in ein Neubaugebiet von Grindavík vor und zerstörte drei Häuser. In der Region nördlich von Grindavík wurden bei den folgenden Ausbrüchen vom 8. Februar und 16. März auch Strassen und eine Warmwasserleitung zerstört.
Das Problem: «Solche Ereignisse wie jetzt werden sich in den nächsten drei bis vierhundert Jahren ständig wiederholen», sagt Thorvaldur Thordarson, Vulkanologie-Professor der isländischen Universität. Das Vulkangebiet der Reykjanes-Halbinsel, wo auch Grindavík liegt, sei wiedererwacht, nachdem es fast 800 Jahre keine Ausbrüche mehr gegeben hatte.
«Erstes Kapitel einer sehr langen Geschichte»
Beim isländischen Wetterdienst IMO, der als Behörde auch für die Vulkantätigkeit zuständig ist, bläst man ins gleiche Horn: «Das ist es erst der Anfang», sagt Matthew Roberts, Direktor der IMO-Forschungsabteilung. «Dies ist buchstäblich der Beginn des ersten Kapitels einer sehr langen Geschichte, und ich glaube, dass dies letztendlich ein sehr wichtiger Wendepunkt für die moderne Zukunft Islands sein wird.»
Beim IMO definiert man die Ausbruchsserie, die 2021 ihren Anfang nahm und sich seit Herbst 2023 zuspitzt, als ausserordentliche Krise. Denn: Die nun erwachte Vulkanregion Reykjanes ist das am dichtesten besiedelte Gebiet Islands – zwei Drittel der gesamten Bevölkerung leben hier. Ganz im Westen, in Keflavík, liegt auch der einzige internationale Flughafen des Landes, die wichtigste Verbindung ins Ausland.
Direkt über der Magmakammer in der Tiefe liegt das wichtige Thermalkraftwerk Svartsengi. Gleich daneben befindet sich das Thermalbad «Blaue Lagune», einer der umsatzstärksten Touristenmagnete des Landes.
Schutzmauern sollen Lavaströme umlenken
Seit letztem Herbst werden jetzt rund um dieses Gebiet kilometerlange Schutzwälle gebaut, um drohende Lavaströme abzulenken. Auch um die Fischerstadt Grindavík wurden solche Wälle hochgezogen. Bereits am 14. Januar hielten sie einen Teil der Lavamassen ab – und auch jetzt wieder, beim Ausbruch am 16. März, wurde ein Lavastrom erfolgreich um die Stadt herum abgelenkt. Es sind innovative Lösungen, die so weltweit erstmals ausprobiert werden.
Für Vulkanologe Thorvaldur Thordarson ist das ein Ausdruck dafür, wie gut man in Island improvisiert und rasch Lösungen findet. Was er vermisst, ist eine langfristige Strategie. «Wir haben uns dafür nicht früh vorbereitet, obwohl wir wussten, dass diese Ausbrüche passieren können», kritisiert er.
Langfristige Massnahmen in Planung
Nach Beginn der neuesten Ausbruchsserie ist dieses Bewusstsein auch bei anderen angekommen. Bei der Wetterbehörde sei man daran, für die Zukunft zu planen, versichert Matthew Roberts. Zum Beispiel wird ausgearbeitet, wo man vielleicht einen neuen internationalen Flughafen bauen will, wo neue Strassen und Stromleitungen, um sicherzustellen, dass sie geschützt sind. Es sei nun eine Art Kampf im Gange, «zwischen vulkanischer Aktivität und dem Versuch, die sozioökonomische Aktivität auf der Halbinsel aufrechtzuerhalten».
Offen bleibt das Schicksal von Grindavík. Das Betretungsverbot wurde zwar aufgehoben, aber die Stadt ist praktisch menschenleer. Die Wasserversorgung ist unterbrochen, Schulen und Läden geschlossen.
«Ich fühle mich traurig», sagt Fischer Stefán Jónsson, der jetzt provisorisch in einer Mietwohnung in der Hauptstadt Reykjavík lebt. So oft er kann, kommt er mit seinen drei Hunden tagsüber in sein Haus in Grindavík und sieht nach dem Rechten. Hier fühle er sich wohl und daheim. Er wolle auf jeden Fall wieder zurück, wenn es die Situation erlaube, versichert er.
Grindavík weiterhin bedroht
Doch derzeit droht die Gefahr von weiteren Erdverschiebungen und Rissen. Auch Ausbrüche mitten in der Stadt sind nicht ausgeschlossen. Denkbar ist aber auch, dass sich die Eruptionen von der Stadt wieder weg verlagern, in abgelegenere Zonen wie von 2021 bis 2023. Doch eine Prognose können auch die Experten nicht geben.
Wir werden viel mehr kleine Eruptionen als grosse haben.
Vulkanologe Thordarson sagt es so: «Wir wissen nicht, was genau passieren wird. Eines ist jedoch sicher: Wir werden viel mehr kleine Eruptionen als grosse haben. Aber wie wir gesehen haben, können auch kleine Eruptionen grosse Schäden verursachen, je nachdem, wo sie stattfinden.»