Jüngste Zahlen zum Pornokonsum von Jugendlichen lassen aufhorchen. Alarmiert beginne ich zu recherchieren und stelle fest: Pornos sind tatsächlich omnipräsent.
Ich erinnere mich an eine Episode aus dem Frühjahr: Ich treffe meine Nachbarin Christina an, sie ist aufgelöst. Als sie nach der Arbeit nach Hause kam, sass ihr neunjähriger Sohn Max mit vier älteren Freunden auf der Kellertreppe, vor ihnen der Familien-Laptop.
Später fand sie heraus, dass die Buben mehrere Pornoseiten angeklickt hatten. Sie ist entsetzt. Wie genau die Kinder dazu gekommen waren, ob Gruppendruck eine Rolle gespielt hat, kann oder will Max nicht sagen. Er habe nicht richtig hingeschaut, als die Videos liefen, sagt er. Ihm ist die Geschichte unendlich peinlich.
Sex ist überall
Pornos sind ein grosses Tabu, obwohl unsere Gesellschaft von sexualisierten Darstellungen durchdrungen ist. Werbung, Musikvideos oder Klassenchats – Sex ist überall.
Die einschlägigen Videos zu finden, ist kinderleicht. Zwei, drei Klicks genügen. Und schon bewegen sich User und Userinnen in abertausenden Filmen. Auch für viele Kinder und Jugendliche sind solche Inhalte jederzeit verfügbar: Sie sind mit Smartphone, Flatrate-Abo und viel Speicherplatz digital bestens gerüstet.
Sex-Heftli aus dem Altpapier
Ich teile die Abscheu und Sorge meiner Nachbarin. Väter sehen den Pornokonsum des Nachwuchses oft lockerer.
«Das ist halt so in dem Alter», bekommt Christina von Männern zu hören, wenn sie die Episode erzählt. Auch sie hätten im Altpapier nach Sex-Heftli gewühlt oder bei Schulkameraden einschlägige VHS-Kassetten geguckt.
Mag sein. Aber damals haben sich die Jugendlichen bewusst auf die Bilder eingelassen. Heute werden die Kinder davon überrollt.
Das grosse Tabu: Sex im Netz
Fast jeder und jede kennt die Fotos, Videos, Memes und Stickers. Darüber reden mag allerdings fast niemand – weder Erwachsene noch Kinder. Vergeblich klopfe ich bei Lehrerinnen und Schulleitern an, um als Journalistin mit jungen Menschen über das Thema sprechen zu können. Alle winken ab. Keine Schule will mit Pornografie in Verbindung gebracht werden.
Im Bekanntenkreis stosse ich endlich auf offene Türen. Nils Lundsgaard ist Lehrer im Schulhaus Steinhölzli in Bern und Vater zweier Teenager. Er will das Thema aus der Dunkelkammer holen.
Er fragt seine Achtklässlerinnen und Achtklässler, ob sie zu Interviews bereit wären. Neun Schülerinnen und Schüler und deren Eltern sagen zu. Dazu kommen neun junge Erwachsene, die früher den Unterricht bei Nils Lundsgaard besucht haben.
Mit Pornos hatten alle schon Kontakt
Vor die Kamera wollen sie in Zweier- oder Dreiergruppen. Offenbar fällt es leichter, in Anwesenheit von engsten Freundinnen und Freunden über das schambehaftete Thema zu sprechen. Fast alle Befragten kamen schon in Kontakt mit pornografischem Material.
Meist zeigt ein Schüler in der Pause ein Pornobild oder -video auf seinem Handy herum. Andere Schüler scharen sich um ihn. «Mich hat es damals schon etwas ‹gruuset›», sagt Lenny, «ich war etwa elf.»
Irgendwann rufen die Buben die Mädchen dazu. «Es hat mich geekelt, ganz ehrlich», sagt Marija über ihren ersten Kontakt mit Pornobildern.
Der Reiz des Verbotenen
Alle sind sich einig: Wer Pornobilder zeigt, will provozieren und im Mittelpunkt stehen. «Es ist neu und verboten», sagt die 15-jährige Amina, «das finden die Leute cool.» Dass sie sich damit strafbar machen, verdrängen sie.
Kindern und Jugendlichen unter 16 gilt ein besonderer Schutz: Ihnen darf auch weiche Pornografie nicht gezeigt oder geschickt werden, egal ob von Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Oft geht es um härtere Bilder, mit Gewalttätigkeiten etwa. Darstellungen also, die generell verboten sind.
Warum Pornos gucken?
Es kostet die Jugendlichen offensichtlich Überwindung, mir von ihren Erfahrungen zu berichten. Aber alle haben sich ihre Gedanken zum Thema gemacht. «Ich glaube, die Buben brauchen die Bilder vor allem zum Masturbieren», sagt eine Achtklässlerin. Viele seien neugierig, sie wollen auch erfahren, «wie es geht».
Die sexualpädagogische Aufklärung an den Schulen scheint zu fruchten: «Das ist nicht die Realität», sagt ein 13-Jähriger über Pornos. Und seine Schulkameradin stellt fest: «Es macht dir mehr kaputt, als dass es hilft.»
Vom Verweis bis zum Arbeitseinsatz
Patrik Killer ist leitender Jugendanwalt in Zürich. Er führt Einvernahmen von Jugendlichen, die sich strafbar gemacht haben, und kennt die Bilder, die kursieren. «Es gibt vieles in den abscheulichsten Variationen», sagt Killer.
Die Jugendanwaltschaft verhängt pädagogische Strafen. Zuweilen genüge ein Verweis, eine Art Gelbe Karte also, sagt Killer. Sind die Fälle schwerer oder fehlt die Einsicht, werden Bussen, Arbeitseinsätze oder der Besuch eines Mediennutzungskurses angeordnet.
Die Bilder kommen immer wieder
Der leitende Jugendanwalt stösst immer wieder auf die gleichen Darstellungen: «Sind die Inhalte mal im Netz, kommen sie immer wieder. Manchmal über Jahre.»
Eine Sisyphusarbeit? Nein, sagt Killer, Wiederholungstäter gebe es nicht viele: «Jugendliche sind lernfähig.» Dass in diesem Bereich aber längst nicht jeder Gesetzesverstoss entdeckt wird, liegt auf der Hand.
Auch wenn sich die Täter nicht zweimal erwischen lassen: Die Pornoflut gehört zur Realität der Jugendlichen. Die 17-jährige Lea ist überzeugt, dass Pornos das Frauenbild der Gleichaltrigen beeinflussen.
Dayana erzählt, junge Männer hätten sie im Ausgang schon ungefragt angefasst, in der Überzeugung, das sei völlig normal. Grenzüberschreitung als Folge des Pornokonsums?
«Gewisse Leute können mit Pornos Fantasien ausleben, die sie im echten Leben nie ausleben würden», sagt Nicolas. Sein Freund Attila findet Pornokonsum nicht verwerflich.
Man müsse sich einfach im Klaren sein, dass eine Abstumpfung drohe. Den Befragten ist bewusst, wie einfach es ist, sich in den Tiefen des Internets zu verlieren und pornosüchtig zu werden.
Abgeglitten in die Sucht
Silvan zum Beispiel ist vor zehn Jahren in die Abhängigkeit geraten. Seine Freizeit verbrachte er vor allem vor dem Bildschirm. Ich begegne dem heute 26-Jährigen in der Suchtfachstelle Radix in Zürich und bin erstaunt: Er entspricht so gar nicht meiner Vorstellung eines Pornosüchtigen. Er ist gross, schlank. Er hat ein offenes Gesicht, ist gut aussehend.
Zuerst habe er sich in weibliche Pokémon-Figuren verguckt, erzählt Silvan. Über Comic-Darstellungen sei er dann zum Porno gekommen. Die Bilder dominierten seinen Alltag. Er hatte nie eine Beziehung.
«Pornokonsum verändert die Persönlichkeit, das muss man sich bewusst sein. Man geht am Leben vorbei», sagt Silvan, «die Pornos stehen so einfach zur Verfügung. Ich habe mich hineingeflüchtet und gar nicht gemerkt, was ich verpassen könnte. Es ging mir lange Zeit gut dabei.»
Erst als Gamer-Freunde immer wieder von ihren Frauenbekanntschaften erzählt hätten, sei er sich bewusst geworden, wie krass er abseits stehe mit seinem Geheimnis, der Pornosucht.
Jetzt will Silvan lernen, mit einer Frau ein lockeres Gespräch zu führen, «auch so Richtung Flirt». Er sei völlig blockiert im Umgang mit dem anderen Geschlecht, es erscheine ihm fast unmöglich, in Kontakt zu treten.
Zurück ins normale Leben
Silvans Therapeut Franz Eidenbenz arbeitet daran, ihn in ein normales Leben mit ungezwungenen Kontakten zurückzuführen. Es sei einfach, in die virtuelle Welt zu flüchten. Oft beginne die Sucht zufällig. Aber fast immer gebe es in der Realität ein Problem: mangelnden Erfolg etwa, fehlendes Selbstvertrauen.
Nicolas erklärt: «Wer ein Sozialleben hat, konsumiert weniger Pornos als ein Jugendlicher, der viel zu Hause sitzt.» Wer in einer Beziehung lebe, sei ohnehin weniger gefährdet.
Andere Körperbilder wegen Pornos
Sucht ist nur eine der Gefahren. Dominique Zimmermann, Sexualpädagogin und Philosophin in Basel, erzählt vom Leistungsdruck, den Pornos auslösen können. Sie habe schon erlebt, dass junge Männer Viagra verlangten, um so funktionieren zu können, wie die männlichen Pornodarsteller.
«Pornos prägen auf jeden Fall das Sexualverhalten», sagt Zimmermann, «die Sexualität wird eher verdorben als aufgewertet.» Meine Gedanken gehen zu den Mädchen: Sie müssen sich angesichts der Pornoästhetik ständig abgrenzen vom Rollenbild der willigen Frau mit perfektem Body.
Zimmermann weiss: Mit den eigenen Eltern diskutiert kein Kind gerne über Sex. Dabei sei es wichtig, auch Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Gefühle anzusprechen.
Was sollen Eltern tun?
Sind wir dem Internet einfach ausgeliefert? «Die kurze Antwort lautet ja», sagt SRF-Digitalexperte Guido Berger. Sein Tipp: Eltern müssten die digitale Welt der Kinder möglichst gut kennenlernen. Das ergebe eine Basis für ein Gespräch über die Gefahren. Die Last liegt also auf den Schultern der Eltern.
Die Sexualpädagogin Dominique Zimmermann sagt: «Natürlich lassen sich Filter installieren. Aber das ist ein Kampf auf verlorenem Posten.»
Eltern müssten davon ausgehen, dass ihre Kinder irgendwann in Kontakt mit Pornos kommen. Im besten Fall vermitteln sie den Kindern schon vorher, dass solche Filme nicht der Realität entsprechen.
Die langfristigen Folgen sind unbekannt
Was bedeutet die Pornoflut für die heranwachsende Generation? Wird ihr Sexualverhalten dadurch beeinflusst? «Ganz sicher», sagt Psychotherapeut Franz Eidenbenz, «aber wir wissen noch nicht wie.»
Er ist überzeugt, dass die Reaktion sehr individuell ausfalle, dass ein Teil der Jugendlichen in Abgrenzung zur harten Pornowelt erst recht mehr Romantik und Zärtlichkeit erleben wolle.
Lehrer Nils Lundsgaard plädiert für Offenheit: «Die Kinder müssen merken, dass es kein Tabuthema ist. Man muss darüber reden. Klarmachen, dass Pornos auf den Handys verboten sind, aber gleichzeitig sagen: Wenn etwas ist, lösen wir das Problem.» Auch sein ehemaliger Schüler Hung empfiehlt, über Pornos zu reden, seine Begründung: «Sie gehören zum Leben.»
Pornos sind nicht harmlos. Alle Befragten sind sich einig, dass sich bei Zehn- oder Elfjährigen Bilder einbrennen können, die sie belasten. Sie brauchen Erwachsene, an die sie sich wenden können.
Wenn die Balance stimmt
Aber Psychotherapeut Franz Eidenbenz sagt auch: «Die meisten Jugendlichen können sehr gut damit umgehen. Wenn die innere Balance auch nur einigermassen gegeben ist, schauen sie sich einen solchen Film mal an. Dann aber interessieren sie sich rasch für andere Sachen.» Was für eine beruhigende Aussage für meine Nachbarin Christina, mich und alle anderen Eltern.
Und Christinas Sohn Max, der mit seinen Schulkameraden freiwillig oder unfreiwillig Pornos konsumiert hat? Nach all den Gesprächen bin ich überzeugt: Für ihn werden die Bilder kaum zum Problem. Er steht mitten im Leben. Seine Mutter hat mit ihm über Pornos gesprochen, hat erklärt, was dahintersteckt.
Der Familien-Laptop ist mittlerweile mit einem Passwort versehen. Aber das wäre gar nicht mehr nötig. Max erzählt, dass er mit seinem besten Freund eine Wette abgeschlossen hat: Wenn einer von beiden wieder Pornos guckt, muss er dem andern 100 Franken geben.