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Es ist der kälteste Tag dieses Winters. Schnee liegt bis in die Stadt hinunter. Eine eisige Bise geht. Trotzdem lassen wir uns nicht von unserem Plan abbringen und stapfen den schmalen Pfad hinauf.
Ursulina geht vor. Ich folge ihr. Unser Ziel ist eine Feuerstelle oben im Wald, weit weg von Menschen und Häusern.
Am Waldrand angekommen, etwa auf halber Strecke, bleibt sie stehen. Ich soll schon mal ein paar Schritte weitergehen, sagt Ursulina und verschwindet hinter einem kleinen Holzhaus. Ich gehe weiter und warte.
Kurze Zeit später taucht sie wieder auf. Auf dem Arm trägt sie Brennholz. Wo sie das herhabe, will ich wissen. Aber sie zwinkert mir nur zu und geht an mir vorbei. Wir stapfen weiter den Berg hoch. Eine halbe Stunde später sitzen wir mitten im Wald an einem Feuer. Und allmählich wird es sogar warm.
Karolines Plan
Geboren wird Ursulina am 21. September 1957 in der kantonalen Frauenklinik Zürich. Damals heisst sie Ursula. Ursula Gruber. Unmittelbar nach ihrer Geburt trennt man sie von ihrer Mutter.
Die Mutter heisst Karoline Gruber, ist ledig, knapp volljährig und stammt aus Scharans im Kanton Graubünden. Seit einem Jahr lebt sie an verschiedenen Orten in Zürich und ist den Behörden durch ihren unsteten Lebenswandel und die häufigen Logiswechsel bekannt.
Jetzt ist sie Mutter geworden, die Spitalkosten kann sie nicht bezahlen. Darum muss sie das Geld für die Geburt mit Putzarbeiten im Spital abverdienen. Das hat wenigstens den Vorteil, dass sie ihr Kind noch einige Tage lang weiterstillen kann.
Karolines Plan ist es, das Kind in ein Säuglingsheim ins Bündnerland zu geben. Dort ist es billiger als in Zürich. Der Pflegeplatz für einen Säugling kostet dort nur 150 Franken im Monat. In Zürich sind es 180 Franken.
Eine mannstolle Mutter
Doch aus dem Plan wird nichts. Noch während Karolines kurzem Aufenthalt in der Frauenklinik in Zürich beschliesst die Vormundschaftsbehörde, das Kind einer Pflegefamilie anzuvertrauen.
Juristisch ist das kein Problem. Karoline kriegt als ledige Mutter für Ursula ohnehin einen Vormund zur Seite gestellt. Einen gewissen Matthias Conrad, Gemeindeschreiber in Scharans. Dazu kommt der unstete Lebenswandel, der sich problemlos skandalisieren lässt. Sogar pathologisieren.
Konkret heisst es in den Akten, Karoline sei «mannstoll». Sie bleibe auch immer nur ein paar Wochen an einer Arbeitsstelle und tauche dann wieder unter. Die Zimmer wechsle sie so häufig wie die Männerbekanntschaften. Man wisse nie, wo sie gerade wohne und mit wem sie gerade das Bett teile. Oder «GV habe», wie es in den Akten wörtlich heisst.
So habe sie im Januar 1957 – also in der fraglichen Zeit – mit einem gewissen Hans Staub «GV gehabt». Gleichzeitig aber auch mit einem gewissen Moser und einem Lehmann, steht in den Akten.
An Pfingsten 1957 habe sie sich mit einem gewissen Julmi verlobt, mit dem sie nach Oensingen gezogen sei, wo sich das Paar als Eheleute ausgegeben habe. Die Verlobung sei dann wieder «aus gewesen», weil bei ihm «gewisse Dinge aufgetaucht seien».
Staub, so heisst es weiter, sei immer noch bereit, die Vaterschaft zu akzeptieren und Karoline zu heiraten. Das wolle Karoline aber nicht, weil Staub Bettnässer sei. Ausserdem sei er mittlerweile obdachlos und habe keine Stelle.
Für die Behörden ist die Sache somit klar: Karoline, nicht bereit, Hans Staub zu heiraten, wird bevormundet. Die Tochter Ursula in eine Pflegefamilie gegeben.
Das Feuer – so unberechenbar wie die Jenischen
Sie habe das Feuer immer schon geliebt, sagt Ursulina. Schon als kleines Mädchen. Später dann, als sie Teil der jenischen Kultur geworden ist, sei ihr auch klar gewesen, warum.
Auch dieser Ort hier bedeute ihr viel. Mindestens dreimal pro Woche sei sie hier. Egal, wie kalt es gerade ist. Hier komme sie runter, sagt sie, hier fände sie zu sich.
Und manchmal habe sie auch eine schöne Begegnung hier. Oder eine merkwürdige. Einmal habe sich ganz in der Nähe ein Fuchs auf einem Baumstrunk zusammengerollt und geschlafen. Die längste Zeit.
Ein anderes Mal sei plötzlich eine milchig-weisse Gestalt neben ihr am Feuer gesessen. Da habe sie gewusst, dass jemand gestorben ist. Und tatsächlich. Am Abend habe sie vom Tod eines Freundes erfahren.
Ich höre zu und nehme auf. Dann frage ich nach den Akten und dem Umstand, dass ihre Mutter dort so schlecht wegkommt. Alles Lüge, sagt Ursulina. Alles nur dazu da, ihre Mutter und ihren Vater auseinanderzubringen. Denn als verheiratetes Paar hätte man ihnen das Kind nicht so schnell wegnehmen können. So aber …
Ursulina schweigt. Sie legt Holz aufs Feuer und schaut in die Flammen. Der Wind wechselt ständig seine Richtung. Unberechenbar sei es eben, das Feuer, sagt Ursulina. Das passe zu den Jenischen.
Wie wird man ein brauchbarer Bürger?
Ursulina ist Opfer der Aktion «Kinder der Landstrasse», organisiert von der Schweizer Stiftung «Pro Juventute». Diese hat in Zusammenarbeit mit den Vormundschaftsbehörden zwischen 1926 und 1973 den Fahrenden die Kinder weggenommen.
Ziel war es, die Kinder zu sesshaften und «brauchbaren» Bürgern zu erziehen. Dazu platzierte man sie in Heimen, Erziehungsanstalten, Gefängnissen oder bei Pflegefamilien. 600 Kinder waren davon betroffen. Ursulina ist eines davon.
Ursula kommt nach einem kurzen Aufenthalt in einem Zürcher Säuglingsheim zu einer ersten Pflegefamilie. Die Familie Bär-Rosenberg in Rümlang. Da ist Ursulina vier Monate alt.
Noch junge Leute seien das, steht in den Akten. Der Mann, Mitarbeiter der Swissair in Kloten, mache einen soliden und ruhigen Eindruck. Die Frau sei energischer als ihr Mann, trotzdem mütterlich gesinnt, sauber und ordnungsliebend.
Sie haben noch zwei grössere Kinder, die ebenfalls sehr wohlgeraten seien. Es wird vereinbart, dass Ursula für ein monatliches Pflegegeld von 120 Franken nach Rümlang kommt. Die Kosten übernimmt die Vormundschaftsbehörde.
Urseli muss weg!
Karoline hält derweil den Kontakt mit ihrer Tochter aufrecht. Sie arbeitet damals in verschiedenen Wirtshäusern als Serviererin und nimmt Ursula gelegentlich mit.
In den Akten heisst es, dass sich die Pflegefamilie heftig über Karoline beklage. Es wird festgelegt, dass Karoline ihre Tochter nur noch unter strengen Auflagen sehen kann.
Anderthalb Jahre später meldet sich Pflegemutter Bär-Rosenberger bei den Behörden und gibt bekannt, dass sie das Urseli, wie Ursulina mittlerweile genannt wird, zurückgeben muss. Ihr Mann trinke wieder. Sie werde sich scheiden lassen. Das Urseli könne sie unter diesen Umständen nicht behalten. Nur wenige Tage später zieht sie an die Bahnhofstrasse in Bonstetten zur Familie Ernst Spillmann, Malermeister. So steht es in den Akten.
Das Anderssein austreiben
Sie habe «Bappeli-Bär» ihrer ersten Pflegefamilie unendlich gerngehabt, erzählt mir Ursulina am Feuer. Ein richtiger Schock sei es gewesen, von dort weggerissen zu werden. Und als man ihr später erzählte, dass die neuen Pflegeeltern einfach vorbeigekommen seien, um sie anzuschauen und sie auch gleich mitgenommen hätten, sei sie sich wie ein Stück Vieh vorgekommen, sagt sie heute.
Doch habe sie auch gute Erinnerungen an die neue Pflegefamilie Spillmann. Vor allem an den Pflegevater. Eine streichelnde Hand sei ihr im Gedächtnis geblieben, die manchmal aufgetaucht sei über ihrem Bettchen. Oder Momente am Sonntagmorgen im Bett, als er ihr Geschichten erzählt habe.
Schwieriger sei das Verhältnis zur Pflegemutter gewesen. Die habe von einem Moment auf den anderen die Fassung verlieren und austicken können. Einmal habe sie sie sogar in den Bauch getreten. Mit voller Wucht. Einfach, weil die Pflegemutter es gerade nicht mehr ertragen konnte, dass die kleine Ursula immer irgendwelche Dinge fragte.
Austreiben müsse man ihr das, habe die Pflegemutter in solchen Situationen jeweils gesagt. Aber Ursula hat nie gewusst, was man ihr denn austreiben soll.
Gewusst nicht. Aber geahnt. Sagt sie heute. Es sei um ihr Anderssein gegangen.
So habe sie eine Strategie entwickelt, um zu verbergen, dass sie anders ist. Sie habe sich eine Hilfsfigur erfunden: Ursulina. Die Kleine, die Freche, die Laute, die, die Dinge anders macht. Sie selbst sei dann Ursula gewesen, die Grosse, Vernünftige, Strukturierte. Ursula habe Ursulina jeweils an der Hand genommen und ihr erklärt, wie sie sich zu verhalten habe, damit es nicht gleich wieder zu einer Katastrophe komme.
Wie vom Donner gerührt
Zwanzig Jahre verbringt Ursula bei Spillmanns in Bonstetten. Sie lernt Klavier, absolviert die Schulen und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie ändert den Namen und heisst nun auch Spillmann. In den Akten steht, dass sie selber den Wunsch geäussert habe, so zu heissen.
Welches Kind interessiert sich schon für seinen Nachnamen, sagt Ursulina am Feuer. Kinder sprechen sich eh nur mit dem Vornamen an. «Nein», sagt Ursulina. Die Namensänderung gehöre zum Projekt «Kinder der Landstrasse».
Am Ende der Ausbildung wartet die Diplomfeier. Ursulina ist jetzt zwanzig. Heimlich nimmt sie Kontakt mit Karoline auf, ihrer richtigen Mutter. Die Mutter soll bei der Feier auch dabei sein!
Also besucht sie die Mutter in Winterthur in einer Neubauwohnung. Dort findet sie nicht nur die Mutter, sondern gleich eine ganze Familie. Den neuen Ehemann und vier Kinder. Ihre jüngeren Halbgeschwister! Und im Wohnzimmer ein Foto von sich selbst.
Wie vom Donner gerührt steht sie in der fremden Wohnung. Sie erkennt, dass das ihre Familie gewesen wäre. Und sie erkennt, dass sie immer Teil dieser Familie gewesen ist. Das Foto beweist es.
Ursulina hat man nie etwas von dieser Familie erzählt. Man hat ihr die Mutter als psychisch kranke Frau in einer Anstalt geschildert. Und noch etwas erfährt sie erst jetzt: Sie ist eine Jenische. Genau so wie die Mutter.
Ursulina ist verwirrt. Eine Jenische zu sein ist sicher gut. Aber auf diese Art belogen zu werden? Diese Erkenntnis stürzt sie in die Krise.
Zwischen Verdrängung und Freiheit
Die Diplomprüfung besteht sie nicht. Gleichzeitig fliegt ihr Besuch in Winterthur auf. Die Pflegemutter nimmt ihr das Versprechen ab, nie wieder Kontakt mit ihrer richtigen Familie aufzunehmen. Andernfalls dürfe sie die Ausbildung nicht fertig machen und die Diplomprüfung nicht wiederholen.
Ursula pariert. Die Ausbildung ist ihr wichtig. Sie spürt, dass ein gelernter Beruf die Freiheit bedeuten könnte. Also verdrängt sie ihre Geschichte. Und kümmert sich nicht mehr darum. 15 Jahre lang.
Erst als ihr erster Sohn zur Welt kommt, ändert sich das. Als er nach der Geburt krank wird, überfällt sie eine panische Angst, man könne ihr das Kind wegnehmen. Jetzt wird ihr klar, worin ihre Geschichte besteht.
Sie macht sich auf die Suche und fordert ihre Unterlagen an. Als sie einen riesigen Stapel Akten überreicht bekommt, erfährt sie, dass sie zu den «Kindern der Landstrasse» gehörte.
Als der «Beobachter» 1973 eine Reportage-Serie über die Opfer der Aktion veröffentlicht, zieht ein Sturm der Entrüstung durchs Land. Die Aktion wird beendet.
Zur Rechenschaft wird nie jemand gezogen. Allerdings erhalten die Opfer der Aktion eine Entschädigung von 2’000 bis 7’000 Franken.
Vertreter der Jenischen sprechen heute von Völkermord. Denn die UNO-Konvention von 1948 qualifiziert «die gewaltsame Überführung von Kindern einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in eine andere Gruppe in der Absicht, sie ganz oder teilweise zu zerstören», als Völkermord. Dieser Konvention folgt das Schweizer Strafrecht. Diskutiert wird heute allerdings die Frage, ob die Jenischen einer dieser Gruppen zugerechnet werden können oder nicht.
Ungeklärte Geschichte
Eine Woche später. Wieder sitzen wir oben im Wald. Wieder an dieser Feuerstelle. Den letzten Aufnahmetermin habe ich abbrechen müssen. So unendlich kalt ist es gewesen vor einer Woche, dass ich das Mikrofon nach einer Weile nicht mehr halten konnte. Ausserdem kann man keine Tonaufnahmen machen, wenn einem die Nase läuft und man immer Geräusche von sich gibt.
Jetzt ist der Frühling da. Vögel zwitschern. Spechte hämmern. Wie angenehm es auf einmal ist hier oben im Wald!
Ursulina macht Feuer. Sie ist sehr geschickt darin. Das Feuer brennt im Nu.
Sie habe das aber bei der Pfadi gelernt und nicht bei den Jenischen, sagt sie lachend. Und wieder tauchen Holzklötze auf, die im Auto auf der Fahrt hierher noch nicht dabei gewesen sind.
Wieder erzählt Ursulina vom Feuer. Welche Bedeutung es für die Jenischen habe. Als zentraler Ort ihrer Kultur.
Das Problem sei nur, dass es mittlerweile verboten sei, auf den Durchfahrts- und Standplätzen Feuer zu machen. Der Grill habe das Feuer ersetzt.
Auf der anderen Seite haben die Behörden die Pflicht, die Kultur anerkannter Minderheiten zu schützen. Und da gehöre das Feuer dazu. Die Jenischen seien als Minderheit anerkannt. Spätestens seit 2016, als Bundesrat Alain Berset die Jenischen und die Sinti als Minderheiten anerkannt habe. Das Feuer bleibe trotzdem verboten.
Ursulina hat mir beim letzten Treffen ziemlich viel Material über die Jenischen mitgegeben. Bücher, Broschüren, Filme. Daraus erfahre ich, dass es etwa 40’000 Jenische in der Schweiz gibt. Davon seien etwa 3000 fahrend.
Ich entnehme, dass es ganze Gemeinden gibt, die als jenisch gelten. Hauptsächlich im Bündnerland. Vaz / Obervaz zum Beispiel. Andernorts soll es jenische Strassen und Viertel geben. Die Hellmutstrasse in Zürich zum Beispiel, die Rechenstrasse in St. Gallen oder die Freiburger Unterstadt.
Die Herkunft der Jenischen sei ungeklärt, lese ich weiter. Manche von ihnen sagen, sie seien Nachkommen der Kelten. Andere, sie kämen aus Ägypten, wieder andere sprechen von einem verlorenen Stamm Israels. Gewisse sprechen sogar von einer Herkunft aus Klein-Ägypten, obwohl es dieses Land nie gegeben hat.
Wahrscheinlich sei eher ihre Abstammung von mittelalterlichen Wanderhändlern, lese ich. Oder von Leuten mit sogenannt unehrbaren Berufen. Ebenfalls wahrscheinlich sei ihre Herkunft aus verarmten Schichten, ihre Abstammung von Religionsflüchtlingen und Vertriebenen. Aber geklärt sei das alles nicht. Und es könne durchaus sein, dass sich dank ihnen in den Bergen Reste einer keltischen Kultur erhalten habe.
Auch die Mutter war ein Pflegekind
Nach der Geburt ihres ersten Sohnes besucht sie ihre Verwandten erneut, diesmal in Zürich und Scharans. Ihre Mutter ist mittlerweile gestorben. Kontakt hat sie vor allem mit den noch lebenden Pflegeschwestern der Mutter. Denn auch Ursulinas Mutter war ein Pflegekind.
Ursulinas Mutter war die Tochter eines jenischen Korbflechters und einer vermutlich jenischen Frau namens Paula, die bei Karolines Geburt starb. Sie wuchs im Nachbarhaus auf bei einer Familie Balzer. Keine Jenischen. Aber Leute mit Herz. Ihr Vater ging dort über Jahre ein und aus.
Später machte sie eine Hauswirtschaftslehre und zog nach Zürich. In dem Moment trat ihr Vormund auf den Plan, ein gewisser Matthias Conrad – eben dieser Gemeindeschreiber in Scharans, der auch Ursulas Vormund werden soll. Conrad versuchte mit allen Tricks, das Mädchen aus Zürich wegzukriegen.
Am Schluss ging er soweit, sie polizeilich suchen zu lassen, um sie als Geistesgestörte in die Psychiatrie einzuweisen. Dank ihrer Schwangerschaft und der Mithilfe eines Polizisten, der sich weigerte, sie zu verhaften, gelang ihm das nicht.
Über sich selber findet Ursulina heraus, dass sie jahrelang systematisch belogen worden ist. Von ihrer Pflegefamilie. Von ihren Lehrern und Ausbildnerinnen. Von den Leuten in Bonstetten, die alles gewusst und nie was gesagt haben. Es dauert lange, bis sie damit fertig wird.
Das Anderssein als Bereicherung
Es sei ein richtiger Zusammenbruch gewesen, was da passiert ist nach dieser Erkenntnis, sagt mir Ursulina am Feuer. Ihre Hausärztin habe sie sofort zu einem Spezialisten geschickt, der habe ihr dann Medikamente gegeben. Das sei wichtig gewesen.
Auch, dass sie nicht in eine Klinik eingewiesen wurde. Denn das wäre ja eine weitere Stigmatisierung gewesen. Später habe sie dann eine Therapie angefangen. Und allmählich sei es ihr wieder besser gegangen.
Heute überwiege das Positive, sagt Ursulina. Durch das Wissen, wer sie sei und was sie sei, könne sie sich ihr Anderssein jetzt erklären und akzeptieren. Und als Bereicherung verstehen.
«Und Spillmanns?», frage ich. Sie habe keinen Kontakt mehr, sagt sie. Die Pflegeeltern seien gestorben. Zu den Pflegegeschwistern sei der Kontakt abgebrochen.
Kürzlich sei sie mal in Bonstetten gewesen. Sie sei in eine Kneipe gegangen, aus der man sie mal rausgeekelt habe, vermutlich wegen ihrer Herkunft. Es habe ihr nichts mehr ausgemacht. Im Gegenteil. Sie ginge heute problemlos durch dieses Dorf.
Ja. Ihr Weg sei nicht nur eine Aussöhnung mit ihrer Pflegefamilie, sondern auch mit ihrer Kindheit gewesen, sagt Ursulina am Feuer.
Wir brechen auf und verlassen die Feuerstelle. Auf dem Weg zurück zum Auto kommen wir an der Stelle vorbei, an der mich Ursulina gebeten hat, kurz voraus zu gehen. Einen Holzstapel sehe ich nirgends. Woher all das Holz kommt, das wir oben im Wald verbrannt haben, bleibt Ursulinas Geheimnis.
Die Geschichte endet vorerst im Frühjahr 2017. Und mit einem Happy End. Nach einem langen und nervenaufreibenden Briefwechsel mit den Behörden erhält Ursulina einen letzten Brief in ihrer Sache. Darin wird ihr bescheinigt, dass sie ihren alten Namen «Gruber» zurückbekommt. Ausserdem erfüllt man ihren Wunsch nach einem neuen Vornamen. Ursulina. Offiziell hat sie diesen Namen bis dahin noch nie getragen. Aber gewesen ist sie Ursulina schon immer.