Ein letzter Wassertropfen klammert sich an die Lippe des gusseisernen Löwenkopfs. Unter ihm das steinerne Brunnenbecken, fast trocken. Aus dem Zulaufrohr fliesst noch ein dünner Wasserstrahl. Zielstrebig läuft das Rinnsal Richtung Abfluss.
Ein Brunnen ohne Wasser. Oliver D’Agostini hat ihm den Hahn zugedreht. Er wird den Brunnen im Linth-Escher-Hof in der Zürcher Innenstadt heute reinigen. D’Agostini ist einer von acht Brunnenwärtern der Zürcher Wasserversorgung. Ihre Aufgabe: die städtischen Wasserspender instand zu halten. Das sind einige.
1277 Brunnen zählt die Limmatstadt. Das macht Zürich vielleicht zur Brunnen-Hauptstadt der Schweiz – eines Lands, in dem ganz selbstverständlich an fast jeder Strassenecke ein Brunnen steht, aus dem tagein, tagaus Wasser fliesst. Noch dazu in bester Trinkwasser-Qualität.
Viel Trinkwasser, den Alpen sei Dank
Wir sind reich – unendlich reich an sauberem Wasser. Zu verdanken haben wir das den Bergen. Hier entleeren sich die Wolken, wenn sie die Hänge emporsteigen, mit Feuchtigkeit von Atlantik und Mittelmeer vollgetankt.
«In den Bergen regnet es mehr als im Flachland. Zudem verdunstet dort weniger Wasser», erklärt Bettina Schaefli, Professorin für Hydrologie an der Universität Bern. «Die Berge liefern uns also viel Wasser, das wir im Flachland nutzen können.»
Ein Job am und im Wasser
Via Zürichsee landet das Wasser aus den Alpen unter anderem im Linth-Escher-Brunnen. Von einem Kollegen gesichert, steigt Brunnenwärter D’Agostini auf das massive Gusseisenbecken. Er richtet einen Hochdruck-Wasserstrahl auf Schmutz und Dreck.
Es spritzt in alle Richtungen. Brunnenwärter – ein Job am, ums und zuweilen auch im Wasser. «Im Sommer beneiden mich alle», sagt D’Agostini, der den Beruf seit acht Jahren ausübt. Im Winter hingegen schauten alle fröstelnd weg.
Neid und Mitleid
Mitleid erntet der Brunnenwärter heute keins. Das Wetter ist ihm an diesem Februarmorgen milde gesinnt. Fünf Grad plus um neun Uhr früh.
Wenn auf den warmen Winter ein heisser Sommer folgt, wird er bald wieder neidische Blicke auf sich ziehen. Falls das kühle Nass nicht ausgeht.
Wegen Wassermangel musste D’Agostini zwar noch nie einen Brunnen abstellen. Auch nicht im trockenen Sommer 2018. In anderen Gegenden der Schweiz wurde das Wasser damals bereits knapp.
Bald auf dem Trockenen?
Laut Klimaforschern werden solche Hitzeperioden mit wenig Regen häufiger und länger. Und dann? Wird uns das Wasser irgendwann ausgehen?
«Im Durchschnitt werden wir immer mehr als genug Wasser haben», sagt Hydrologin Bettina Schaefli. Der Durchschnitt sage allerdings nichts darüber aus, was in Extremjahren oder an einzelnen Orten geschehe: «Wasser kann lokal und für eine begrenzte Zeit immer wieder einmal knapp werden.»
Der Klimawandel wird das Wasserschloss Schweiz nicht trockenlegen. Es muss sich aber auf Veränderungen einstellen. Die Gründe dafür liegen wiederum in den Bergen, im ewigen Eis und Schnee.
Schnee als Wasservorrat
In den Bergen ist viel Wasser zwischengespeichert. Ein Vorrat, in üppigen Zeiten angelegt, um in knappen Zeiten davon zu zehren. Die Schneedecke ist ein solcher Speicher, der sich im Winter füllt. Mit den steigenden Temperaturen im Frühling gibt er das Wasser langsam wieder frei.
Als Folge des Klimawandels fällt im Winter vermehrt Regen statt Schnee. Ein grosser Teil dieses Wassers fliesst schnell ab. «Für den Wasserhaushalt bedeutet dies, dass wir im Winter mehr Wasser haben – im Frühjahr und im Sommer aber weniger», so Schaefli.
Schmelzende Gletscher füllen die Flüsse
Dass die Gewässerpegel in den warmen Jahreszeiten nicht zu sehr sinken, dafür sorgt aktuell das Schmelzwasser der Gletscher. «Die schmelzenden Gletscher liefern uns heute zusätzlich Wasser, das vor mehreren Jahrzehnten als Niederschlag gefallen ist», sagt die Hydrologin der Uni Bern. «Diese zusätzliche Wasserquelle wird im Laufe des 21. Jahrhunderts versiegen.»
Bis 2100 dürften die Alpengletscher laut Prognosen von Glaziologen bis auf wenige Resten verschwunden sein. Ihr Wasser wird dann fehlen. Spüren wird man das an tieferen Gewässerpegeln in trockenen Sommern.
Auch künftig Wasser im Überfluss
Auf die Wasserverfügbarkeit in der Schweiz habe das übers Jahr betrachtet aber nur einen sehr kleinen Einfluss, meint Schaefli: «Wir werden immer Wasser im Überfluss haben, da es überall in der Schweiz im Jahresdurchschnitt mehr regnet, als Wasser verdunstet. Dies wird auch in Zukunft so bleiben.»
Weiterhin genug Wasser also – auch für die vielen Zürcher Brunnen. Das wird ihre Wärter auf Trab halten. Mit einem Elektromotorrad düst D’Agostini von einem zum nächsten. Um 87 Brunnen muss er sich jede Woche kümmern.
Früher sei das anders gewesen, sagt der 41-Jährige – und erzählt aus einer Zeit, als noch keine Leitungen das Wasser frei Haus lieferten. Noch im 19. Jahrhundert wachte der Brunnenwärter den ganzen Tag über die gemeinschaftliche Wasserquelle. Damit keiner im Trinkwasser-Abteil Kleider wusch. Und die Pferde nicht aus dem falschen Trog tranken.
Langweilig, aber sinnvoll
Wäre er gerne der Brunnenwärter von früher? D’Agostini winkt ab, zu langweilig: «Auch wenn es manchmal sinnvoll wäre.» Er musste nämlich schon allerlei aus dem Brunnen fischen. Ein Velo zum Beispiel. Oder einen vollen Abfallsack.
Während sich D’Agostini um den groben Dreck kümmert, spüren seine Kollegen in den Labors der Wasserversorgung mikroskopisch kleinen Verunreinigungen nach. Auch sie finden Dinge, die nicht ins Wasser gehören – den Süssstoff Acesulfam zum Beispiel.
Süssstoff-Wasser statt Süsswasser?
Die künstliche Süsse aus Light-Getränken oder Zahnpasta ist schwer abbaubar. Unbeschadet passiert Acesulfam unseren Darm und meist auch die Kläranlage. Schliesslich landet es in den Gewässern.
«Im Rhein bei Basel fliessen täglich über 100 Kilogramm Acesulfam aus der Schweiz ab», sagt Andri Bryner vom Wasserforschungsinstitut EAWAG. Auch wenn die gemessenen Acesulfam-Konzentrationen für das Ökosystem vermutlich unproblematisch sind: In natürlichen Gewässern hat der künstliche Süssstoff nichts verloren.
Von Dünger bis zu Duschgel
Am stärksten belastet ist das Schweizer Wasser aber durch Substanzen, die zum grössten Teil aus der Landwirtschaft stammen: Nitrat aus Düngemitteln sowie Pestizide.
Daneben tummelt sich im Wasser eine bunte Mischung aus Stoffen unterschiedlicher Herkunft. Zum Beispiel Lösungs- und Reinigungsmittel aus Industrie und Gewerbe. Oder Rückstände von Duschgels, Kosmetika und Medikamenten aus den Haushalten.
Wenig, aber nicht problemlos
Das meiste davon findet man nur in sehr kleinen Konzentrationen. Neue Reinigungsstufen in den Kläranlagen können einige Substanzen auch wieder entfernen. Für Bryner von der EAWAG ist aber klar: «Spurenstoffe in den Wasserressourcen werden uns auch in Zukunft beschäftigen.» Auch, weil manche Fremdstoffe sehr lang im Wasserkreislauf verbleiben.
Im Grundwasser findet man heute noch Rückstände des Unkrautvernichters Atrazin, obwohl sein Einsatz seit über zehn Jahren verboten ist. Das liegt auch daran, dass sich das Grundwasser nur langsam erneuert.
Gut, aber unter Druck
So ist das Grundwasser, unsere wichtigste Trinkwasserressource, heute unter Druck. Zu diesem Schluss kam das Bundesamt für Umwelt letztes Jahr in einem Bericht. Noch ist seine Qualität aber gut – teils sogar so gut, dass man es ohne Aufbereitung trinken kann.
Auch die Qualität unseres Trinkwassers, das zu 80 Prozent aus Grundwasser besteht, ist grundsätzlich gut bis sehr gut, wie Andri Bryner sagt: «Das Trinkwasser kann ab Hahn überall bedenkenlos getrunken werden.»
Tierische Vorkoster
Beim Zürcher Trinkwasser testen Kleinkrebse, ob dies so ist. In einer Prüfapparatur am Hauptsitz der Wasserversorgung kosten die sensiblen Tiere das Wasser vor. Solange die nur wenigen Millimeter kleinen Krebse im Wasser zappeln, ist es in Ordnung. Bewegen sie sich atypisch oder gar nicht mehr, schlägt das System Alarm. Passiert ist das allerdings noch nie.
Das von den Kleinkrebsen geprüfte Wasser wird auch gleich wieder aus dem Linth-Escher-Brunnen fliessen. «Das ist eigentlich kein Brunnen», sagt Brunnenwärter D’Agostini: «Das ist ein Wasserspiel.»
Der Unterschied? Das vom Abfluss verschluckte Wasser fliesst nicht in die Kanalisation. Es wird wieder hochgepumpt und macht sich von der obersten Wanne abermals auf den Weg nach unten. Immer und immer wieder.
Kreislauf des Wassers
Ein Kreislauf, genau wie der Wasserhaushalt selbst: Von den Bergen fliesst das Wasser über Flüsse und Seen ins Meer. Dort wird es in die Wolken hochgepumpt, die es wieder in die Berge tragen.
Verloren geht dabei kaum etwas. Aber alles Fremde, das im Kreislauf landet, ist unter Umständen nur schwer wieder wegzukriegen.
In einem Schacht unter dem Linth-Escher-Brunnen dreht Oliver D’Agostini den Hahn auf. Es knistert in den Wasserrohren. Dann rauscht das Wasser aus dem Zulaufrohr. Bald fällt es wieder in Kaskaden über zwei Gusseisen-Wannen und schliesslich durch kleine Löwenmäuler ins Steinbecken. Courant normal im Wasserschloss Schweiz.