Jetzt also Europa. Der 77-jährige Sloterdijk, der bislang so ziemlich alle Phänomene der äusseren und inneren Welt durchleuchtet hat, wendet sich in seinem Buch den Charakteristika des europäischen Kontinents zu. Dieser sei zwar eigentlich nur ein «Vorgebirge Asiens, das man zu Unrecht einen Kontinent» nenne. Dennoch habe Europa die Welt über die letzten 500 Jahre massgeblich geprägt.
Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er die Genese Europas und den heutigen Status Quo nicht mit der ihm eigenen Originalität erzählen würde. Er setzt an scheinbar nebensächlichen Ereignissen oder Büchern an, um das Entscheidende des Europäischen herauszuschälen.
Europäer: Die Newcomer und neuen Stars
Der Untertitel des Buches lautet «Lesezeichen im Buch Europa». Diese Lesezeichen sind in erster Linie nicht der Humanismus, der koloniale Kapitalismus, Revolutionen, die Weltkriege und das Friedensprojekt der Nachkriegsära.
Sie sind vielmehr Ergebnisse, die auch in Sloterdijks erstem «Lesezeichen» wurzeln: der opulenten Ehrung des Dichters Francesco Petrarca, der 1341 «durch einen römischen Senator in Anlehnung an ein Ritual der römischen Kaiserzeit, auf dem Kapitol zum poeta laureatus gekrönt» wurde.
Das Ereignis habe den Startpunkt der Entwicklung der nächsten Jahrhunderte eingeläutet: Menschen jenseits aristokratischer Herkünfte konnten fortan auf die grosse Arena treten, die die Welt bedeutet.
«Die neuen Stars der Gelehrsamkeit, der Dichtung, der Rhetorik, der bildenden Künste und der Musik stifteten den Anfangsimpuls eines Zusammenhangs, den man noch nach siebenhundert Jahren als ein komplexes Kontinuum europäischer Individualitätskultur identifiziert.»
Der Newcomer war geboren. Und mit ihm das Streben, das Lernen, das Talente-Schmieden – und die «Erfindung des Erfindungsgeistes». Letzterer hatte nicht nur die industrielle Revolution zufolge, sondern auch Unterdrückung, Kolonialismus, Krieg, Ausbeutung.
Aus dramaturgischer Sicht ist Europa das Wirkungsgebiet von Re-Inszenierungen römischer Befehlssysteme.
Daher müsse man, um Europa zu erfassen, vor allem die «Metamorphosen eines Gebildes verstehen, in dessen Zentrum über Jahrhunderte die imperative Funktion am Werk blieb». Dieses habe seinen Ursprung im Römischen Imperium, das im Kern auch nicht wirklich untergegangen sei, sondern einen «Gestaltwandel» erfahren habe.
«Aus dramaturgischer Sicht ist Europa das Wirkungsgebiet von Re-Inszenierungen römischer Befehlssysteme», schreibt Sloterdijk. Aus diesen seien «die neuzeitlichen europäischen ‹Staaten› hervorgegangen, zumeist als ‹Nationalstaaten› aufgemacht, mit der Helvetischen Konföderation als bedeutsamer Ausnahme.»
Impulse für ein aufgeklärtes Europa
Und die Europäische Union? Sie sei zwar ein «monströser Grosskörper» mit 27 Organen, eine «politische Improvisation», die inzwischen aber kein Gebaren eines Imperiums an den Tag lege. Vielmehr sei Europa eine Art «Museum», in dem das einst Geschehene ohne Anschluss an die aktuelle Realität besichtigt werde.
Sloterdijk suggeriert keine politischen oder moralischen Handlungsanweisungen. Doch er setzt Impulse: «Das aufgeklärte Europa ist so lange am Leben, wie die schöpferischen Leidenschaften die des Ressentiments in Schach halten.»
Beide, Schöpferisches und Ressentiments, ringen heute mehr denn je um die Deutung und politische Schlüsse aus dem Vergangenen und Gegenwärtigen dieses «Kontinents ohne Eigenschaften».