Ein kürzlich viral gegangenes Video zeigt den Dalai Lama, wie er an einem öffentlichen Anlass in Dharamshala Ende Februar 2023 einen Knaben auf den Mund küsst. Der Junge hatte Seine Heiligkeit umarmen wollen. Der Dalai Lama bittet ihn daraufhin auf die Bühne und bietet ihm erst die Wangen zum Kuss an, dann den Mund.
Schliesslich fordert er das Kind auf, ihm die herausgestreckte Zunge zu lutschen («suck my tongue»). Der Knabe weicht zurück. Da lacht der Dalai Lama, herzt den Knaben und verabschiedet ihn. Ein globaler Shitstorm folgt. Von Missbrauch und Pädophilie ist die Rede.
Eine verspielte Neckerei?
Dass der Akt des Dalai Lama fragwürdig war, dürfte klar sein. Dem pflichtet selbst dessen offizielle Pressestelle bei. Sie entschuldigt sich im Namen des Dalai Lama beim Jungen und seiner Familie für den Schmerz, den die Worte des Geistlichen verursacht haben könnten.
Abschliessend heisst es: «Seine Heiligkeit neckt oft Leute, die er trifft, auf eine unschuldige und verspielte Art, sogar in der Öffentlichkeit und vor Kameras.»
Aus hiesiger Perspektive mutet die Geste dagegen nicht unschuldig an. Das Kind wurde in Bedrängnis gebracht und seine Intimsphäre verletzt, so der Eindruck. Allerdings ist es wichtig, den kulturellen Kontext mitzubedenken. Ein rein westlicher Blick verzerrt das Bild.
Die Rolle der Zunge
Die Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz hat sich das Video mehrmals angeschaut. Für sie ist klar, dass der Szene ein traditionelles tibetisches Begrüssungsritual zugrunde liegt: das viel gesehene Bild, wenn ein Lama zur Begrüssung seine Stirn an die Stirn einer anderen Person legt.
«Der sogenannte ‹Utug› ist eine grosse Respektsbezeugung hoher Lamas», so Kollmar-Paulenz. «Er signalisiert: ‹Ich bin nicht abgehoben, sondern ein Dalai Lama zum Anfassen.›»
Zur Rolle der Zunge erklärt sie: «Wir in der Schweiz geben die Hand. Tibeter strecken die Zunge raus. Das ist ein traditionelles Begrüssungsritual.» Auch der Tibetologe Jens Schlieter von der Universität Bern gibt zu bedenken, dass die Zunge im tibetanischen Kontext anders als bei uns keine sexualisierte Konnotation hat.
Grenzwertig, aber nicht sexuell
«Scherze, die der Dalai Lama mit seinem Publikum macht, sind häufig grenzwertig», ergänzt der Tibetologe. Klar ist für ihn: «Dieses Ereignis ist sicherlich eines, das aus unserer Perspektive als übergriffig bezeichnet werden muss.»
Der Dalai Lama merkt nicht, dass er eine Grenze überschreitet.
Auch Buddhismuskennerin Kollmar-Paulenz weist auf die verbale Kultur der Lamas hin. Provokationen, derbe Sprüche und kruder Humor würden dabei eine wichtige Rolle spielen. «Der Dalai Lama merkt nicht, dass er hier eine Grenze überschreitet. Es ist ein äusserst schlechter Scherz», sagt sie.
Die Geste aber als klar sexuelle Anspielung zu deuten, werten sowohl Kollmar-Paulenz als auch Schlieter als Verzerrung kulturell bedingter Tatsachen durch den westlichen Blick.
Wenig reflektiert
Entlastet die Betonung des kulturellen Kontextes den 87-Jährigen? Nicht, wenn es die Intimsphäre eines Kindes verletzt. Der Dalai Lama ist Friedensnobelpreisträger und ein religiöser Superstar. Er jettet um die Welt, und seine Gedanken finden weltweit Beachtung.
Als praktizierender Buddhist gehört es zu seinem spirituellen Alltag, in jedem Moment achtsam und präsent zu leben. So wäre zu erwarten, dass er mit seinen Witzen zwar derb sein kann, sich jedoch bewusst sein müsste, wo er damit Wehrlose verletzt.