Manipulation, Prügel und sexuellen Missbrauch assoziieren die wenigsten Menschen mit dem Buddhismus. Umso grösser war das Erstaunen, als der vor allem im Westen bekannte und verehrte tibetische Lama und Buchautor Sogyal Rinpoche 2017 beim Dalai Lama wegen Missbrauchsvorwürfen in Ungnade fiel.
Der inzwischen verstorbene Geistliche soll unzählige Frauen vergewaltigt haben, wie nun ein Film und ein Buch zeigen. Er war nicht der Einzige.
Mehr als dreissig Männer und Frauen beschuldigen derzeit dreizehn buddhistische Geistliche in mehreren westlichen Ländern, sie missbraucht zu haben. «Diese Opfer sind nur die Spitze des Eisbergs», so Elodie Emery, Co-Autorin des Dokumentarfilmes «Buddhismus: Missbrauch im Namen der Erleuchtung», zu dem auch ein Buch erschienen ist.
Frauen, die sich öffentlich über Missbrauch äussern, seien schwer zu finden: «Es gibt auch Fälle in der Schweiz, aber niemand wollte bisher Klage einreichen.»
Gefährliche Unfehlbarkeit
Einen Bezug von diesen Missbrauchs-Vorfällen zur grossen tibetischen Gemeinschaft in der Schweiz zu schaffen, sei nicht statthaft, schreibt Thomas Büchli, der Präsident der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft (GSTF), in einer Stellungnahme. Zudem sei das Verhalten «einzelner buddhistischer Geistlicher völlig inakzeptabel und diejenigen, die solches Verhalten praktizieren, stehen unserer Meinung nach jenseits jeder wahrhaftigen Spiritualität».
«Das zentrale Problem, wenn man es so nennen will, ist die grosse Lehrerverehrung im tibetischen Buddhismus», erklärt die Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz von der Universität Bern. Das Verhältnis vom Schüler zum Lehrer sei nicht nur asymmetrisch, sondern in der Gestalt des Lehrers trete dem Schüler auch der Buddha entgegen. Diese Verbindung dürfe nicht infrage gestellt werden. Werde sie es doch, habe das karmische Folgen für Schüler und Angehörige.
Dieses Machtgefälle könne leicht missbraucht werden, so die Religionswissenschaftlerin. Missbrauchsfälle seien leider nichts Neues.
Frauenfeindlichkeit mit System
Die ehemalige schottische Buddhistin June Campbell wies schon 1996 darauf hin, dass die tibetische Ausrichtung des Buddhismus potenziell frauenfeindlich sein könne. Kleine Jungen, denen die Kraft zur Erleuchtung zugesprochen wird, würden ihren Familien entrissen und in Klöstern in einer Männergemeinschaft aufgezogen.
Später würden diese als Lehrer wiederum andere kleine Jungen zu Lehrern ausbilden. Um dieses Patriarchat zu stützen, würden Frauen systematisch unterdrückt, so Campbell in ihrem Bestseller «Traveller in Space».
Campbell war selbst Konkubine eines Lamas, wie die Lehrer im tibetischen Buddhismus genannt werden. Erst im Laufe der Jahre fand sie zur Erkenntnis, dass sie missbraucht worden war. Bis heute wird sie beschuldigt, sich damit nur wichtigmachen zu wollen. Ein Missbrauch hätte nie stattgefunden.
Unkritische Konvertierte
Das sei typisch, sagt der deutsche Zen-Buddhist Muhō Nölke: «Wenn ein Schüler einen Missstand anspricht, wird ihm oder ihr gerne vorgeworfen, er oder sie «hafte noch an ihrem Ego». «Was wie Missbrauch aussieht, – und selbstverständlich Missbrauch ist – sei in Wirklichkeit ein Versuch, den Schüler aus den Fesseln seines in christlich-westlichen Moralvorstellungen verhafteten Geistes zu befreien», so Nölke.
Dass nun Missbrauchsvorwürfe gegen westliche Lehrer in westlichen Ländern erhoben würden, zeuge auch von einer falschen Vorstellung von Tantra, erklärt die Religionswissenschaftlerin Kollmar-Paulenz. Im Westen werde es oft ausschliesslich als sexuelle Praxis verstanden. Dabei sei es in erster Linie eine hochanspruchsvolle Meditation. Zudem seien Konvertierte oft etwas übereifrig und unkritisch und wollten es besonders gut machen.
«Keine Gleichheit der Geschlechter»
«Zusammenfassend könnte man sagen: Der Buddhismus fällt so tief, weil er im Westen so hoch gehandelt wurde», so Kollmar-Paulenz: «Es gibt keine Gleichheit der Geschlechter, nicht alle Tibeter sind kleine Heilige, sondern ganz normale Menschen mit Stärken, Schwächen und – ja, auch sexuellen – Bedürfnissen.»
Damit wolle sie keinesfalls irgendetwas rechtfertigen: «Missbrauch ist Missbrauch, da gibt es nichts zu beschönigen. Die Tatsache, dass viele Jungen bereits mit fünf oder sechs Jahren in den Klöstern als Novizen aufgenommen werden, und dort in einer reinen Männergesellschaft aufwachsen, ist ein strukturelles Problem.»
Auch der Dalai Lama ist in einer derartigen Gemeinschaft aufgewachsen. Ihm wird angelastet, nicht zu den Vorwürfen Stellung bezogen zu haben. Das stimme nicht, sagen Kollmar-Paulenz und die Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft übereinstimmend: «Der Dalai Lama hat deutliche Kritik am Fehlverhalten einiger Lamas geübt, aber er kann einem Lama nicht verbieten zu lehren», sagt Kollmar-Paulenz.
Kein tibetischer Papst
Der Dalai Lama sei zwar der Repräsentant der weltweiten tibetischen Exilgemeinschaft, aber nicht das Oberhaupt der tibetischen Buddhisten. Er sei also nicht vergleichbar mit dem Papst, auch wenn viele im Westen dies denken würden, so die Religionswissenschaftlerin.
Der tibetische Buddhismus sei weder besser noch schlechter als andere Religionen. Es seien die Menschen, die manchmal an der Umsetzung der in den Religionen formulierten ethischen Grundsätze scheiterten.