An der Street Parade. Am Oktoberfest. Am Grümpelturnier. Oder an den immer beliebter werdenden Motto-Partys: Sich zu verkleiden ist Trend.
Das bestätigen auch Beobachtungen von Kulturwissenschaftler Mischa Gallati. «Bräuche hatten schon immer Ventil-Charakter», sagt der Dozent für populäre Kulturen an der Universität Zürich. Es gehe dabei sicher auch darum, im gesellschaftlich akzeptierten Rahmen über die Stränge zu schlagen.
Halloween: Spiel mit der «Angst-Lust»
Nächste Gelegenheit zur Kostümierung ist Halloween: Der Gruselbrauch hat längst auch in der Schweiz Fuss gefasst. Am Abend des 31. Oktobers gehen Kinder unter der Androhung von «Trick or Treat» («Süsses oder Saures») bei Nachbarn auf die Jagd nach Süssigkeiten.
Erwachsene tauchen mit Vampirzähnen und furchteinflössenden Masken an Partys auf. Halloween bietet die Möglichkeit, mit der eigenen «Angst-Lust» zu spielen.
Mischa Gallati sieht mehr hinter dieser neuen Freude an Kostümierung: «In der heutigen Gesellschaft wird vom Einzelnen erwartet, dass er oder sie verschiedene Rollen einnehmen kann.» Unsere Identitäten seien fliessender, und sich zu verkleiden sei ein Teil davon.
Unser Ich hat viele Rollen
So bestehe die Identität des Einzelnen aus vielen Puzzle-Teilen. «Wir hüpfen von einem Ich zum anderen», erklärt Gallati.
Heute wird von jedem erwartet, dass er verschiedene Rollen einnehmen kann.
Situativ nehmen wir unterschiedliche Rollen an und halten uns an die entsprechenden Codes. Gehen wir zum Yoga, ziehen wir eine Yoga-Hose an. Im Büro tragen wir einen Anzug.
Einige dieser Puzzle-Teile, dieser Rollen, werden uns aufgedrängt. Einige sind selbstbestimmt. So sind wir Sohn und Tochter, ohne es beeinflussen zu können. Unsere Rolle als Teamleiter, Tennisspielerin oder Hobby-Fotograf hingegen ist selbstgewählt.
Individualität durch Identitäts-Hopping
Durch dieses Puzzle kann sich der Einzelne authentisch fühlen: Es macht genau unsere Individualität aus, dass wir Sohn, Tennisspieler und an Halloween ein Vampir sind.
Die Verkleidung bietet dabei eine Möglichkeit, lustvoll mit diesem «Identitäts-Hopping» umzugehen: Wir werden selbst aktiv. Um es mit Gallatis Worten zu sagen: «Wir machen, was von uns erwartet wird, aber überspitzen es noch.»
Kommerz auch in der Populärkultur
Von dieser Freude am Kostüm profitieren Partyveranstalter. Und allen voran der Detailhandel: Die grossen Supermärkte stellen zu jeder Verkleidungsgelegenheit passende Outfits, Accessoires und Schminke in die Regale. Gerade Halloween wird hierzulande oft als «leerer Kommerzbrauch» bezeichnet, der keinen Bezug zur Schweiz habe.
Im angelsächsischen Raum gehört Halloween zu den drei kommerziell wichtigsten Feiertagen. «Wir leben in einer gewinnorientierten Gesellschaft», konstatiert Mischa Gallati. Die Populärkultur habe diese Maxime längst übernommen. Doch wer hinter der Beliebtheit von Halloween rein marktwirtschaftliche Gründe sehe, der mache es sich zu einfach.
Kostümierung schon im Mittelalter
Historisch gesehen sind Verkleidungen in zwei Kontexten zu finden: An der Fasnacht und im Theater. Beide haben ihre Wurzeln in der Religion und wurden dann profaniert. Fasnacht wurde Teil der Populärkultur, Theater Teil der Hochkultur.
Sich ein Kostüm überzuziehen ist also keine Neuerscheinung. Doch im Unterschied zum 21. Jahrhundert war damals das Spiel mit der durch Stand und Geschlecht fixierten Identität nur wenigen vorbehalten.
Sendung: SRF zwei, Keine 3 Minuten, 26.10.2018, 2:25 Uhr