Papst Franziskus ist ein Reformer, der von konservativen Kirchen-Kreisen an der Umsetzung seiner Reformen gehindert wird. Diese gängige Erzählung kritisiert der Kirchen- und Religionsexperte Michael Meier in seiner Analyse «Der Papst der Enttäuschungen».
Belege gefällig? «Wenn eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt», ist eine viel zitierte Papst-Aussage. Genau wie diese: «Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern ein Ort der Barmherzigkeit.» Barmherzigkeit identifiziert Meier als Schlüsselwort des Pontifikats des ersten Lateinamerikaners auf dem Stuhl Petri.
Die Last von Lehre und Tradition
Klingt gut. Nur folgen den Worten keine Taten, moniert Meier, Theologe und früher «Tages-Anzeiger»-Journalist. Franziskus stelle Barmherzigkeit über die Lehre und Dogmen der römisch-katholischen Kirche und taste diese nicht an. «Nicht die verstockte Kurie hindert Franziskus an Reformen, sondern die zentnerschwere Last der Lehre und der Tradition», schreibt Meier.
Pflichtzölibat, Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe, «auf die heterosexuelle Penetration fixierte Sexualmoral» sowie hierarchische Strukturen: Bei diesen Themen ortet Meier den ewigen Reformstau in der Kirche.
Sexualmoral von gestern
Ein paar «Reförmchen» und «Retuschen» gesteht Meier dem Papst zu: die Kommunion für geschiedene Wiederverheiratete in Einzelfällen oder den Segen für gleichgeschlechtliche Paare in eng definiertem Rahmen. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Homosexualität hingegen würden nach wie vor als «irregulär» gelten.
Die sogenannte «Dezentralisierung», mehr Macht und Befugnisse in den Regionen, entlarvt Meier als Vernebelungstaktik des Papstes. Zu Erinnerung: Bei der Bischofssynode im Oktober 2019 hatten zwei Drittel der anwesenden Bischöfe für die Zulassung von verheirateten Männern zum Priestertum votiert. Trotzdem habe Franziskus die Aufweichung des Pflichtzölibats für Priester nicht einmal in Erwägung gezogen.
Die römisch-katholische Kirche in Deutschland ist für Meier bezüglich Reformen «heute klar die Avantgarde». Dort habe Papst Franziskus den synodalen Weg persönlich ausgebremst, die Dezentralisierung ad absurdum geführt.
Die schlimmste Krise seit der Reformation
Dem Umgang mit sexuellen Übergriffen und spirituellem Missbrauch durch Priester widmet Meier ein eigenes Kapitel. Er hält fest: Papst Franziskus habe den Kampf gegen den Missbrauch nur halbherzig geführt. Auch hier bleibt Meier keine Belege schuldig.
Sich selbst beschreibt Michael Meier als «reformierten Christen und verhinderten Konvertiten». Für ihn ist die römisch-katholische Kirche nach westlichen Vorstellungen nicht reformierbar.
Das Engagement von Papst Franziskus für obdachlose, flüchtende und hungernde Menschen würdigt Meier nur kurz, ebenso die ökologischen und spirituellen Anliegen des Papstes.
Der Papst – ein barmherziger Seelsorger, der sich wenig für Reformen interessiert: Würde Franziskus der These von Michael Meier zustimmen? Einst hat Franziskus den Katholikinnen und Katholiken in Deutschland in einem Brief zu verstehen gegeben, dass ihn die ewigen Diskussionen um Strukturen und Funktionen wenig interessieren. Vielmehr sollten sie auf die «zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens» reagieren.