Das Küssen sei eine einzigartige Form der Kommunikation, schreibt Kommunikationsforscher Hektor Haarkötter in seinem Sachbuch «Küssen – eine berührende Kommunkationsart». Beim Küssen würden zwei Menschen die «einzige Form oraler Kommunikation» praktizieren, die «ohne Worte auskommt».
Wie schön! Doch Hektor Haarkötter, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, sagt uns: Der Kuss habe in der Öffentlichkeit massiv an Bedeutung verloren. Er spielt allenfalls im Privaten noch eine gewisse Rolle – wenn überhaupt.
Küssen: mehr Ritual als Erotik?
Denn im Zeitalter von Speed-Datings und Tinder hat es sich weitherum ausgeküsst. Untersuchungen zur Sexualität von Jugendlichen etwa zeigen, dass diese – im Unterschied zu den Alten – das labiale Vorspiel kaum mehr pflegen.
Doch kein Grund zur Panik! Denn das Küssen gehöre gar nicht zwingend zum Menschen, belehrt uns Professor Haarkötter, es sei ein kulturelles Phänomen: Etwa die Hälfte der Erdbevölkerung – vornehmlich im globalen Süden beheimatet – sei dem Küssen seit jeher abhold gewesen.
Auch sei die Meinung völlig falsch, es würde vornehmlich aus Gründen der Liebe oder Erotik geküsst. Historisch gesehen war das Küssen, dort, wo es überhaupt praktiziert wurde, oft eine spröde rituelle Betätigung.
Der Begrüssungskuss
Völlig unromantisch handhabte man laut Haarkötter den Kuss etwa im alten Persien: als ein blosses Zeremoniell zur Begrüssung. Unter Gleichrangigen gab es Mundküsse, in allen anderen Fällen reichte die Wange.
Auch in der Kultur des alten Griechenlands war das Küssen vornehmlich eine Geste, um sich Hallo zu sagen, meistens zwischen engen männlichen Verwandten oder Freunden. Allmählich soll das Küssen unter der griechischen Sonne dann jedoch eine erotische Bedeutung erhalten haben.
Der Liebeskuss
Buchstäblich toll trieben es die alten Römer mit dem Küssen. Für sie war es Ausdruck von Zuneigung und Liebe – und dermassen verbreitet, dass es laut Haarkötter «manchem zu viel wurde».
So beschwerte sich etwa der Dichter Martial, dass es unmöglich sei, in der Stadt «den Küssern zu entkommen». Und es sei einem Mann schlicht unmöglich, den Kuss für seine Braut aufzusparen.
Der Judaskuss
Die Bibel schweigt sich darüber aus, ob sich Adam und Eva küssten oder nicht. Andernorts im Alten Testament wird jedoch munter geküsst. So beginnt etwa das «Hohelied Salomos» mit schmachtender Kuss-Erotik: «Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein.»
In der Passionsgeschichte Christi erfuhr der Kuss eine dunkle Verkehrung: Der Kuss des verräterischen Judas zeigte den römischen Häschern an, wer in der Gruppe der Jünger der zu verhaftende Boss war.
Der keusche Kuss
In den Gemeinden der christlichen Urkirche blieb das Küssen, vorab als Begrüssungsritual, jedoch weiterhin verbreitet. Als sich die Kirche im Lauf der Jahrhunderte zur Institution mit festen Strukturen entwickelte, geriet das Küssen – weil unsittlich – ins Abseits.
Im Hochmittelalter blieben einzig garantiert keusche und unschuldige Küsse erlaubt: Infrage kam etwa, dem Papst die Füsse zu küssen oder dessen Fingerringe, Reliquien – oder, falls greifbar, der päpstliche Maulesel.
Der cineastische Kuss
Mit dem Zeitalter der Romantik ab dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebte der mit Gefühlen aufgeladene Kuss seine Wiedergeburt. Es blieb laut Hektor Haarkötter dann jedoch dem Kino vorbehalten, mit der kirchlichen Kussverklemmung aufzuräumen.
Und es tat dies in seiner Gründerzeit mit einem cineastischen Paukenschlang – dem legendären Stummfilm «The Kiss» von 1896.
Der Film zeigte ein Paar, das sich leidenschaftlich küsste – in Nahaufnahme und fast 30 Sekunden lang. Skandal!
Die Massen strömten in die Lichtspielhäuser. Und bis in die 1950-er Jahre waren gefüllte Kinosäle und Kassen garantiert, wenn sich auf der Leinwand ein Paar tummelte, das sich irgendwann ausgiebig küsste. Und damit das Publikum mit einem verzückt-wohligen Gefühl schwängerte.
Heute undenkbar. Seit der Sex auf der Leinwand Einzug gehalten hat und pornografische Bewegtbilder via Internet unbeschränkt zur Verfügung stehen, geht niemand mehr wegen eines Kusses ins Kino.
Der Bruderkuss
Zur Zeit des Kalten Kriegs erlebte der Ritualkuss in Gestalt des sozialistischen Bruderkusses eine eigentümliche Renaissance. Unvergessen sind die Küsse des Sowjetführers Leonid Breschnew. Er galt als intensiver Küsser, wenn er sich mit Staatschefs der sozialistischen Bruderstaaten traf.
Dem Vernehmen nach soll es den Kubaner Fidel Castro derart geekelt haben vor Breschnews oralen Annäherungsversuchen, dass er bei einem Besuch in Moskau stets eine Zigarre griffbereit gehalten habe, um sie sich – im Fall der Fälle – schnell in den Mund stecken zu können.
Die Kuss-Ikone
Die goldenen Zeiten des Kusses sind vorbei. Was bleibt, sind Darstellungen dieser einzigartigen Form der Kommunikation, die zur Ikone geworden sind.
Dazu zählt der – inszenierte – Schnappschuss in schwarz-weiss «Der Kuss vor dem Hôtel de Ville» in Paris des französischen Fotografen Robert Doisneau von 1950. Das Bild zierte, und ziert bis heute, als Poster die Wände vieler unserer Wohnungen: Zwei junge Menschen erklären sich die Liebe. Mit ihren Mündern, ganz ohne Worte.