Der Frühling in Istanbul beginnt, als ob nichts gewesen wäre. Auf den Verkehrsinseln blühen bunte Blumen und die Bosporus-Fähren, die täglich zwischen Asien und Europa verkehren, erstrahlen in frischem Weiss. Alles ist gut, verspricht auch das Lächeln des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, der von zahlreichen Plakaten grüsst.
Gezi – ein Stichwort aus einer anderen Zeit?
Möglichst wenig, so scheint es, soll daran erinnern, dass die Bosporusmetropole noch im Sommer 2013 Schauplatz der grössten Antiregierungsproteste in der Geschichte der türkischen Republik war. Wie zum Beweis hat die Stadtverwaltung im Gezi-Park frischen Rasen ausgerollt. Auf den Bänken am Wegesrand sitzen junge Familien, schlürfen türkischen Çay aus Pappbechern und essen Sesamkringel.
Von dem einstigen Schlachtfeld, von Barrikaden, Tränengasschwaden und skandierenden Menschenmassen, ist zumindest auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Die Poster und Graffitis von damals sind weitestgehend verschwunden und selbst die Treppenstufen, die Oppositionelle über Nacht als Zeichen des Protests regenbogenfarben angemalt hatten, hat der Regen längst wieder graugewaschen.
Gezi-Proteste – das wirkt wie ein Stichwort aus einer anderen Zeit. Recep Tayyip Erdogan – dessen Rücktritt damals Zehntausende forderten – ist seitdem vom Premierminister zum beinahe allmächtigen Präsidenten der Türkei aufgestiegen. Und die brutalen Polizeieinsätze, welche die Wut damals noch angefacht hatten, gehören inzwischen zum Alltag. Nicht wenige der einstigen Demonstranten verfolgen sie heute höchstens noch im Fernsehen. Sie haben resigniert.
In Mut und Humor wirkt Gezi weiter
Gezi im Werk verschiedener Künstler
War also alles umsonst? Aus und vorbei der Traum von einer anderen Türkei? Niemals, sagen Menschen wie Bedri Baykam, einer der bekanntesten Maler des Landes. «Dieser Aufstand war ein Tsunami», glaubt er. «Ein Tsunami, der Sauerstoff in die Gehirne der Kulturschaffenden gespült hat.» Und tatsächlich: Vor allem in Ausstellungen, Gedichten, Theaterstücken, Artikeln und Liedern leben die Kreativität, der Mut und der Humor der Proteste vom Sommer 2013 bis heute weiter.
Auch wenn im Gezi-Park nun unschuldige Frühlingsidylle herrscht. In anderen Ecken Istanbuls sieht man sie sehr wohl, die Zeichen derer, die ihren Widerstand nie aufgegeben haben. «Tränengas ist gut für die Haut!» heisst es da aufmunternd an einer Hauswand. Und nur wenige Meter weiter hat jemand einen Gruss an den Präsidenten hingesprüht: «Tayyip, probier mal ein Glas Wein!».
Ein Lehrstück: einer hilft dem anderen
Hunderte solcher Sprüche, Comics und Fotomontagen kursieren täglich auf Twitter – seit Gezi das Kommunikationstool Nummer eins der Türken. Als die Regierung den Nachrichtendienst vorübergehend sperren liess, entstanden über Nacht in ganz Istanbul Graffitis mit den DNS-Codes, die es brauchte, um die Blockade in wenigen Sekunden zu umgehen. In Windeseile wurden neue Zugangsmöglichkeiten ausgetauscht und weitergegeben. Einer half dem anderen – so wie damals, als man Gasmasken und Zitronen teilte, um die Wirkung des Tränengases zu lindern, das die Polizei in jede Menschenmenge sprühte.
Hausbesetzer kämpfen weiter
«Gezi hat uns aufgeweckt», glaubt Talat, der im Nachklang der Proteste gemeinsam mit anderen das erste Haus in Istanbul besetzt hat. «Vorher haben wir jeder in unserer Höhle gelebt. Wir haben davon geträumt, etwas zu verändern. Aber weil wir alleine waren, hatten wir Angst. Durch Gezi haben wir uns gefunden.» Talat und seine Freunde haben weder die Regierung gestürzt, noch die Welt verändert. Aber sie haben aus einem leer stehenden Haus über Nacht das linksalternative Kulturzentrum «Don Quixote» gemacht, das bis heute immer wieder Ausgangspunkt von hitzigen Debatten, kreativen Aktionen und gewaltfreien Protesten ist.
Auch, wenn die türkische Regierung seit dem Sommer 2013 nicht weniger repressiv gegen ihre Gegner vorgeht. Auch, wenn weiter jeden Tag unliebsame Websites gesperrt werden und Verfahren gegen einstige Demonstranten laufen. Gezi hat zahlreichen jungen Türken wie Talat etwas bewiesen, was eigentlich längst zur Floskel verkommen war: Zusammen sind wir stark!