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Das Hochstapler-Syndrom: «Bald fliege ich auf!»
Aus Input vom 24.05.2023. Bild: SRF/Simon Krebs
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Leben mit Hochstapler-Syndrom Und ständig nagt der Zweifel: «Heute fliege ich auf»

Sie erfüllen alle Voraussetzungen für ihren Job, das Feedback ist gut. Trotzdem begleitetet Betroffene die ständige Angst, als Betrüger aufzufliegen. Das kann sogar in einem Burnout enden.

Alex ist dreissig, hat ein abgeschlossenes Biologiestudium, viel Arbeitserfahrung und arbeitet erfolgreich in einer Naturschutzbehörde. Seine Vorgesetzten sind zufrieden. Die Rückmeldung aus dem Team ist gut.

Trotzdem meldet sich in Alex’ Kopf immer wieder die kritische Stimme: «Jetzt stehe hier und sage, wie wir das Problem anpacken. Dabei habe ich eigentlich gar keine Ahnung.» Alex fühlt sich immer wieder wie ein Hochstapler – obwohl er keiner ist.

Illustration von einem Mann auf einem Kartenhaus balancierend.
Legende: Fehler um jeden Preis vermeiden: Für Betroffene mit Hochstapler-Syndrom ist die Arbeit ein Balanceakt. SRF/Simon Krebs

Der Biologe hat sehr hohe Ansprüche an sich selber: Gemäss seiner Vorstellung müsste sich ein «richtiger» Biologe einerseits noch lieber in der Natur aufhalten. Gleichzeitig müsste er noch mehr Schreibtischarbeit leisten.

Mehr, mehr, mehr

Vom Hochstapler- oder Impostor-Syndrom Betroffene sind oftmals beliebte Mitarbeitende, weil sie sehr gute Arbeit abliefern. Für sie selber ist das Hochstapler-Gefühl aber unangenehm: Es kostet viel Energie, ist schambehaftet und kann grossen Stress verursachen.

Du kannst zu wenig. Du weisst zu wenig. Du willst Expertin sein?
Autor: Michaela Muthig Expertin für das Hochstapler-Syndrom

«Ich hasse Fehler. Und ich habe auch nie richtig gelernt, sie zu machen», sagt Alex. Betroffene wie er versuchen, Fehler um jeden Preis zu vermeiden. Denn wenn einer herauskäme, so fürchten sie, würde allgemein bekannt, dass sie eigentlich gar nichts können.

Mit dem Erfolg wächst der Zweifel

Das Gefühl, anderen Kompetenz vorzuspielen, trägt auch Michaela Muthig mit sich herum. Die ehemalige Oberärztin ist heute Expertin für das Hochstapler-Syndrom – primär aus eigener Erfahrung.

«Auch jetzt im Interview höre ich die kleine Impostor-Stimme: Du kannst zu wenig. Du weisst zu wenig. Du willst Expertin sein?», so Michaela Muthig.

Illustration von einem Mann, der sich im Spiegel verzerrt sieht.
Legende: Verzerrte Wahrnehmung: Beim Impostor-Syndrom haben Betroffene das Gefühl, sie würden anderen ihre Kompetenz nur vortäuschen. SRF/Simon Krebs

Besonders stark hatte sich die innere kritische Stimme nach ihrer Beförderung zur Oberärztin zu Wort gemeldet. Heute weiss sie: «Das ist typisch für das Hochstapler-Syndrom. In Erfolgsmomenten wird der Selbstzweifel besonders stark.»

Michaela Muthig beschliesst, sich intensiv mit dem Syndrom auseinanderzusetzen, bis sie sich ganz darauf spezialisiert: Sie schreibt das Sachbuch «Und morgen fliege ich auf» und bietet heute Coachings für Betroffene an.

Verzerrte Selbstwahrnehmung, unklare Faktenlage

Wie verbreitet das psychologische Phänomen ist, kann Muthig nicht sagen. Einerseits ist die Dunkelziffer sehr gross, weil das Gefühl so schambehaftet ist.

Wenn andererseits Probanden in psychologischen Studien auf das Syndrom angesprochen werden, geben viele an, sie hätten es. Von sich aus würden sie es aber nicht erwähnen. Laut einer Studie von 2011 sollen gut 70 % der Menschen einmal in ihrem Leben mit dem Hochstapler-Syndrom in Berührung kommen.

Illustration von einem Mann einsam im Scheinwerferlicht.
Legende: Darüber reden hilft. Denn dann merken Betroffene: Ich bin mit dem Gefühl nicht allein. SRF/Simon Krebs

Das Impostor-Syndrom ist also schwer zu fassen. Einige Merkmale lassen sich aber feststellen:

  • Expertinnen gehen von einem Impostor-Spektrum aus: Am einen Ende sind die Menschen, die das Gefühl gar nicht kennen. Am anderen verorten sich diejenigen, die stark darunter leiden. Die Intensität kann für Einzelne je nach Lebensphase variieren.
  • Das Hochstapler-Syndrom gilt nicht als eigene psychische Krankheit, sondern als Persönlichkeitsmerkmal. Es kann in Einzelfällen aber zu grossem Stress, in eine Depression oder zu einem Burnout führen.
  • Der Ursprung des Impostor-Syndroms liegt oft in der Kindheit. Betroffene haben sich ein verzerrtes Verständnis von Intelligenz und Kompetenz angelernt. Als Beispiel nennt die Expertin Michaela Muthig den Typ «Naturtalent»: Die betroffene Person meint, sie wäre nur dann intelligent, wenn sie sich für gute Resultate nicht anstrengen müsste. Das muss sie aber. Um nicht als dumm entlarvt zu werden, muss sie ihren grossen Aufwand deshalb um jeden Preis verbergen.
  • Besonders anfällig für das Gefühl, als Hochstaplerin aufzufliegen, sind Menschen aus gesellschaftlichen Minoritäten: People of Color, Personen mit Migrationsgeschichte oder solche, die aus einem Arbeiterinnenmilieu in eine höhere Schicht «aufgestiegen» sind. Prominentes Beispiel ist Michelle Obama, Ex-First-Lady der USA. Ihnen fehlen im Job oft Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren können.

Gegen den inneren Kritiker vorgehen

«Darüber reden, ist der allererste Schritt aus dem unangenehmen Gefühl heraus», weiss Impostor-Coach Michaela Muthig. «Das nimmt dem Hochstapler-Gefühl die Scham und man erkennt: Ich bin ja gar nicht allein mit dem Problem!» Ausserdem solle man sich Informationen zum Thema zusammensuchen, rät sie.

Des Impostors grosser Bruder: der ungesunde Perfektionismus

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Legende: Joëlle Huser ist Spezialistin für das ungesunde Perfektionismus- und das Impostor-Syndrom. Lehrmittelverlag Zürich, 2021

«Das Impostor-Syndrom ist eine Ausprägung des ungesunden Perfektionismus», sagt Expertin und Coach Joëlle Huser. Menschen, die das Hochstaplergefühl kennen, haben oft

  • perfektionistische Tendenzen
  • eine Hochsensitivität
  • und ein hohes Potenzial

Huser schreibt zum Thema und coacht in ihrer Praxis in Zürich hochbegabte Kinder und Erwachsene. Zu ihren Klienten und Klientinnen zählen hochspezialisierte Fachleute aus Forschung, Finanzbranche oder Justiz. «Oft kommen sie bereits mit Depressionen oder nach Burnouts zu mir ins Coaching. Viele erfahren erst hier vom Impostor-Syndrom. Oft schafft das alleine schon grosse Erleichterung.»

Ausserdem hilft Humor: Die Methoden, die Perfektionismus-Expertin Joëlle Huser den Klienten in ihrer Praxis empfiehlt, können Freude bereiten – und konditionieren das Gehirn von Betroffenen quasi nebenher um:

  • «Die Turnübung»: Am Morgen soll man sich jeweils fragen: «Wie hoch sind meine Ansprüche an meine eigene Leistung?» Oft schnellt da der Arm weit über den Kopf hoch. «Wenn man einen Moment lang mit dieser Armhaltung herumgeht, merkt man schnell: Das ist sehr streng.» Wenn man den Arm in eine angenehmere Position bringt, auf Hüfthöhe, kann man sich selber sagen: «Heute gehe ich mal mit dieser Haltung durch den Tag.» Das heisse beispielsweise, vor neuen Aufgaben bei Vorgesetzten mehr Zeit einzufordern.
  • Ein Tagebuch der guten Momente führen: «Wichtig hier: Es geht nicht darum, riesige Erfolge zu feiern, sondern um alltägliche Kleinigkeiten: das Vogelgezwitscher am Morgen oder das nette Lächeln der Bus-Chauffeurin.»

Bei anhaltend grossem Stress oder Burnout-Gefahr helfen Coachings im Rahmen einer Psychotherapie.

Weichenstellungen in der Arbeitskultur

Nicht nur für Betroffene, sondern auch aus Sicht von Vorgesetzten und Unternehmen ist es sinnvoll, Kenntnis vom Impostor-Syndrom zu haben. Von gewissen Elementen könnten grundsätzlich alle Mitarbeitenden eines Betriebs profitieren, weiss der Arbeitspsychologe Christian Fichter aus Zürich.

  • Selbstwirksamkeitserfahrung: Diese ist insbesondere für Menschen, die an Langzeitprojekten arbeiten und im Job viel Zeit vor dem Computerbildschirm verbringen, hilfreich. Kleinere Meilensteine im Abstand von maximal einigen Wochen definieren, bei denen eine Standortbestimmung und Feedback stattfinden und die nächsten Meilensteine definiert werden.
  • Differenziertes Feedback: Damit ein Lob bei Menschen mit Hochstapler-Syndrom auch wirklich ankommt, muss es «gut» sein. Das heisst: zeitnah, persönlich und differenziert. Eine unpersönliche Mail an die Belegschaft mit «Herzlichen Dank für den Einsatz» komme hingegen nicht an.
  • Gute Fehlerkultur: Er wolle Fehler nicht verherrlichen, so Fichter. Aber: Sie passieren, überall und immer. Es brauche eine wertschätzende Fehlerkultur, in der auch etwas gewagt werden dürfe. «Sonst wird Dienst nach Vorschrift erbracht, und das ist Gift für jegliche Innovation.»

Radio SRF 3, Input, 28.5.2023, 15:00 Uhr

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