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Leid der Leistungsgesellschaft Arm, krank, erfolglos: Sind wir an allem selbst schuld?

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, besagt das bekannte Sprichwort. In unserer Leistungsgesellschaft lastet deshalb die Schuld oft auf den Einzelnen. Zu Unrecht?

Neulich am Familientisch, wo zwei Kleinkinder den Ton angeben: In Ruhe Cornflakes essen ist mal wieder keine Option für die Kleinen. Stattdessen wird geturnt, bis der Kleinere unsanft vom Hochstuhl fällt. «Selbst schuld!», schimpft der Grosse – selbstgefällig. Woher ein 4-Jähriger das hat? Ich kann die Schuld nicht von mir weisen. 

Wer nicht hören will, muss fühlen – und ist deshalb selbst schuld. Gebe ich das als Mutter wirklich mit? Zugegeben: Wer zigmal pro Tag daran erinnert, was der kleine Mann tun oder besser lassen soll, um nicht ständig durchs Leben zu stolpern, mag irgendwann nur noch den Unschuldigen unter uns die Schuld zuweisen. 

Eine Frau sitzt. Finger zeigen auf sie. Es ist eine Illustration.
Legende: Selbst schuld, wer als Mutter überfordert ist? Selbst schuld, wer krank ist? Heutzutage wird gerne dem Einzelnen die Schuld in die Schuhe geschoben. Colourbox

Klingt nach Kinder- oder eher Elternkram. Doch was wir den Kleinen mitgeben, lastet uns Erwachsenen scheinbar ständig auf den Schultern: die Schuld.

«Selbst schuld» – die Ideologie unserer Zeit?  

«Du bist an allem selbst schuld!» Darin erkennen die Autoren und Autorinnen des Essaybands «Selbst schuld» eine Ideologie unserer Zeit. In 13 Texten denken sie darüber nach, inwiefern die Schuld in unserer Gesellschaft auf den Einzelnen lastet.  

Buchhinweis

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Verantwortlich für die Klimakatastrophe, für die eigene Armut, für den Körper? Im Sammelband «Selbst schuld!» (herausgegeben von Wolfgang M. Schmitt und Ann-Kristin Tlusty) nehmen sich 13 Autoren und Autorinnen der «Schuldfrage» an. Etwa die Literatin Anke Stelling, die Politikerin Sarah-Lee Heinrich oder der Journalist Christian Baron. Erschienen 2024 beim Hanser Verlag.

Klimawandel: Mitschuldig, wer Auto fährt – oder nicht sauber recycelt. Leben in Armut: Selbstverschuldet, wenn man sich nicht richtig anstrengt. Die Prämisse des Buches: Die Schuldzuschreibung auf Einzelne sei «ein grundlegender Mechanismus, um von gesellschaftlichen Missständen und Herrschaftsverhältnissen abzulenken», steht im Vorwort.

Wer trägt die Schuld?  

Schuld sei jedoch nicht das Individuum, sondern Gesellschaft oder Politik: «Die einfache Antwort auf die Frage, wer schuld ist: das System», sagt die Journalistin und Mitherausgeberin des Buches Ann-Christin Tlusty.

Für diesen Umstand macht Tlusty den Neoliberalismus verantwortlich. Sie sagt – verknappt: Er habe die Individualisierung gefördert und dem Einzelnen mehr Verantwortung aufgebürdet. Grundsätzlich sei das nicht verwerflich. Die Kehrseite der Eigenverantwortung jedoch: «Wer sie nicht produktiv ausschöpfen kann, fühlt sich schuldig.» 

Darf man faul sein?  

In ihrem eigenen Beitrag zum Buch nimmt Tlusty sich der Faulheit an. Nichts tun am Wochenende: Heutzutage ein No-Go, stellt sie fest. Selbst in der Freizeit sei keine Zeit für Ruhe.  

Ein To-Do-Zettel als Illustration.
Legende: Keine Zeit für Musse: Selbst in der Freizeit ist bei vielen die To-do-Liste lang. Colourbox

Unschön sichtbar sei dies auf Social Media: Influencer, die scheinbar das Beste aus ihrem Dasein herausholen. Denn wäre nicht der Tag verschwendet, hätte man nicht schon vor dem Morgengrauen Yoga gemacht, danach die Kleider ausgemistet und die Haut mal wieder richtig gründlich befeuchtet? Tlustys Punkt: Wer diesen Menschen zuschaut, fühlt sich schuldig. 

Das ist lästig in einer Lebenswelt, wo Selbstoptimierung Ziel ist. Schwer wird’s jedoch, wenn die Schuld auf Bedürftigen lastet: «Faulsein dient oft der Legimitation des Elends», schreibt Tlusty. Der faule Arbeitslose etwa, ein beliebtes Feindbild. Denn findet nicht jeder und jeder Arbeit, wer auch wirklich will?  

Die Meritokratie – ein Märchen?

You can get it, if you really want! Jimmy Cliffs Ohrwurm, der locker-flockig daherkommt, scheint zum Soundtrack unserer Zeit geworden sein.  

Klar: Wer viel Herzblut hineinsteckt, ist vielleicht ein besserer Arzt. Wer mehr Forschung betreibt, die bessere Akademikerin. Das Leistungsprinzip – es treibt, spornt uns an, macht uns auch besser. Aber der Gedanke, dass Leistung gleich Gelingen ist, ist heikel. 

Der politische Philosoph Michael Sandel stellt in seinem Buch «Vom Ende des Gemeinwohls» fest, dass das Leistungsprinzip zu einer Spaltung zwischen «Gewinnern» und «Verlierern» führt. Der Gewinner schaue auf «Verlierer» herab. Die Erfolglosen: Loser, die zu wenig leisten. 

Harte Arbeit können zwar zu Erfolg führen, aber vieles sei auch Glück. Das Glück etwa, in privilegierte Kreise hineingeboren zu sein. Und wer arm geboren wird, hat oftmals weniger Chancen aufzusteigen.

Wer trägt Verantwortung?  

Eine freiheitliche Gesellschaft, in der jeder und jede möglichst viel schaffen kann: Das wünscht sich Stefan Manser-Egli. Der Co-Präsident von Operation Libero, der lieber von Verantwortung als von Schuld sprechen mag, hat sich als Liberaler auf die Fahne geschrieben, die Freiheit des Einzelnen zu ermöglichen. Er steht für Eigenverantwortung ein.

In unserer Gesellschaft, sagt er, würden jedoch oft die Falschen zur Verantwortung gezogen: «Heute haben wir gesellschaftliche Strukturen, in der die einen mehr Freiheit geniessen und weniger Verantwortung übernehmen müssen – und andere weniger Freiheiten geniessen und mehr Verantwortung – oder Schuld angelastet kriegen.» 

Um das Bild des Schmiedes überzustrapazieren: Wir haben nicht alle gleich viel Metall zur Verfügung.
Autor: Ann-Christin Tlusty Autorin

Reiche, die verantwortungslos durch die Welt jetten – oder Steuern hinterziehen: ein bekanntes Beispiel dafür. Oder – ein brutales Beispiel: der Umgang mit sexuellen Übergriffen. Während Täter oft glimpflich davonkommen, wird Opfern eine Teilschuld zugeschrieben. Hätte die Frau doch keinen Minirock getragen: Eine Schuldzuweisung, die kein Opfer verdient. 

Was ist verdient?  

Die Schuld, die den Unschuldigen zugeschrieben wird. Ähnlich funktioniert es mit dem Verdienst. In einer Gesellschaft, in der das Leistungsprinzip leitet, schreiben sich viele den Erfolg selbst zu. Geschafft – aus eigener Kraft. 

Ein Bettler und reiche Menschen. Eine Illustration.
Legende: Selber schuld, wer auf der Strasse landet. Oder selbst verdient, wer reich wird. So einfach ist es nicht. Colourbox

«Man muss die Bescheidenheit haben, nicht einfach auf das Geleistete stolz zu sein», so Manser-Egli. Zugeben, dass viele Faktoren zum Erfolg führen. Herkunft oder soziales Milieu meistens – beides Glückssache. Nicht jeder ist seines eigenen Glücks Schmied, betont auch Tlusty: «Um das Bild des Schmiedes überzustrapazieren», so Tlusty: «Wir haben nicht alle gleich viel Metall zur Verfügung.» 

Nur bedingt Kontrolle 

Das Credo beflügle jedoch, so Tlusty. Auch weil es suggeriere, «dass man sein Leben unter Kontrolle hat». Ein Beispiel ist die Gesundheit. Smoothies trinken und Sport treiben: Es ist angesagt, dem Körper Sorge zu tragen. Das Feilen am Körper geht so weit, dass wir gar glauben, ihn im Griff zu haben – Krankheit gar vermeiden können. 

Schon 1978 kritisierte die Philosophin Susan Sontag in «Krankheit als Metapher», dass die Nutzung von Metaphern kranke Menschen stigmatisiere. Ein Beispiel: Krebs als Krieg. Kranke, die gegen ihre «Krankheit kämpfen» – und dem Krebs «erliegen». Wer so über Krebs spreche, mache die Krankheit zur persönlichen Schwäche.

Damals galten unterdrückte Gefühle noch als mögliche Ursache von Krebs. Mittlerweile ist diese Vorstellung überholt. Der Gedanke, dass man Eigenverantwortung trägt, schwingt jedoch immer noch mit. Auch wenn wir wissen: Selbst, wer seinem Körper Sorge trägt, kann an Krebs erkranken.

Die Sorge um die Vorsorge – sie bringt mich zurück zum Familientisch. Mit einem Kind, das Gemüse grausig findet, kommen bei mir als Mutter ständig Schuldgefühle auf. Soll ich Rüebli in Sternchen schneiden, damit er sie isst? Bin ich schuld, wenn er einen Vitaminmangel hat? Wirklich krank wird?  

Kontrollieren, das weiss ich, kann ich das nicht. Der Gedanke, dass ich die Schuld haben könnte, nagt doch manchmal am mir, wenn auch jeweils nur kurz.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 8.12.2014, 10:00 Uhr

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