Früher hat Myriam Boulos das pulsierende Beiruter Nachtleben porträtiert. Jetzt zieht die Fotografin mit ihrer Kamera durch die Trümmer von Beirut.
In den Vierteln, die bei der Explosion vom 4. August zerstört wurden, macht sie Bilder von den Opfern der Katastrophe: von Menschen, die innerhalb weniger Sekunden alles verloren haben.
«Das ist meine Art mit der Situation umzugehen», sagt Boulos. «Ich kann mir meine Motive nicht selber aussuchen. Sie kommen zu mir.»
Nichts geht mehr
Libanons Kulturszene steckt im Überlebenskampf. Schon vor der Explosion litt der kleine Mittelmeerstaat unter einer schweren Wirtschaftskrise.
Zudem setzt die Corona-Pandemie dem bankrotten Land zu. Seit Monaten funktioniert hier fast nichts mehr. Das Geld ist wertlos. Die Arbeitslosigkeit steigt. Und immer wieder fällt selbst in der Hauptstadt Beirut der Strom aus.
Viele sind deprimiert
Das trifft auch die Kulturschaffenden. So hat Nabil Canaan seine «Station Beirut» vorläufig zugemacht. In den Räumen des Kulturzentrums, dessen Türen und Fenster kaputt sind, lagern Lebensmittelpakete für Bedürftige. Vor einem halben Jahr noch probte hier das Ensemble des Zürcher Neumarkt-Theaters.
Doch nun ist an Tanz, Theater oder Musik nicht mehr zu denken: «Die Künstler in Beirut kämpfen ums nackte Überleben», sagt Canaan: «Viele sind deprimiert und haben kein Geld mehr. Unter solchen Umständen ist es schwierig, kreativ zu sein.»
Leuchtturm Libanon
Nabil Canaan, der in der Schweiz aufwuchs, kehrte in den Nullerjahren in den Libanon zurück. Damals boomte die Kulturszene: Es gab Galerien, Kunstateliers, Untergrundparties und Konzerte. Beirut galt als das Berlin des Nahen Ostens. DJs aus der ganzen Welt legten hier auf.
Der Libanon, wo Christen, Muslime und Drusen mal gegeneinander, mal miteinander leben, sei schon immer ein Ort der Freiheit gewesen, so Canaan: «Hier war immer mehr möglich als in den totalitären Nachbarländern. Deshalb gilt der Libanon als Leuchtturm. Als Beweis dafür, dass auch im Nahen Osten Vielfältigkeit und Kreativität möglich sind.»
In der Sackgasse
Nun ist dieser Leuchtturm in Gefahr. Das liegt nicht nur an der Explosion, die ausgerechnet die Künstlerviertel von Mar Mikhael und Gemmayze am härtesten traf. Auch politisch steckt das Land in einer Sackgasse.
Zwar soll der Libanon so bald wie möglich eine neue Regierung bekommen und Geberländer wie Frankreich drängen auf längst fällige Reformen. Doch die korrupten Ex-Milizenbosse und Clanchefs, die das Land in den Abgrund geführt haben, sind nicht gewillt, ihre Macht aufzugeben.
Grosse Hoffnungen, riesengrosse Explosion
Seit Oktober 2019 gehen Tausende Libanesinnen und Libanesen daher immer wieder gegen die Korruption und die Misswirtschaft ihrer Politiker auf die Strasse.
Doch inzwischen macht sich bei vielen Müdigkeit breit: «Wir hatten grosse Hoffnungen in die Proteste gesetzt und an die Möglichkeit einer Veränderung geglaubt», sagt die Fotografin Myriam Boulos, die die Demonstrationen mit ihrer Kamera begleitet hat. «Aber spätestens seit der Explosion sind wir desillusioniert.»
Nicht aufgeben
Immer mehr junge Libanesen wollen deshalb nur noch weg. Vor allem junge Künstlerinnen und Künstler zieht es ins Ausland.
Auch Myriam Boulos hat darüber nachgedacht. Vorläufig will sie aber bleiben: «Ich glaube, wir Künstler haben die Pflicht, das was hier geschieht zu dokumentieren und unser Bestes zu geben», sagt sie.
Nabil Canaan, der Leiter der «Station Beirut» war während der Explosion in der Schweiz. Auch er will nicht aufgeben. Deshalb fliegt er jetzt zurück nach Beirut und macht sein Kulturzentrum so schnell wie möglich wieder auf: «Nur so können wir allen zeigen, dass es weitergeht. Und dass es aller Dunkelheit zum Trotz immer noch Hoffnung gibt.»