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Literatur-Nobelpreisträgerin Warum schwieg Alice Munro zum Missbrauch an ihrer Tochter?

Kurz nach dem Tod der Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro machte die Tochter den Missbrauch durch ihren Stiefvater öffentlich. Nun hat sie sich deutlich zur Zurückhaltung ihrer Mutter geäussert.

Das Entsetzen war gross, als Andrea Skinner im Sommer 2024 publik machte, dass sie über Jahre von Gerald Fremlin, dem zweiten Ehemann ihrer Mutter, Alice Munro, sexuell missbraucht wurde. Mittlerweile veröffentlichten der «New Yorker» und das «New York Times Magazine» neue Details.

Andrea Skinner war 25 Jahre alt, als sie ihre Mutter 1992 ins Vertrauen zog. Aufgrund der Reaktion von Munro, geht Andrea Skinner davon aus, dass ihre Mutter schon davor von den Übergriffen wusste, aber dazu schwieg. Kurz darauf schrieb Skinner ihrer Mutter einen Brief und schilderte detaillierter, was Gerald Fremlin ihr angetan hatte. Munro verliess daraufhin das gemeinsame Haus und liess den Brief sichtbar liegen.

Fremlin las den Brief, kommentierte ihn und gab der Tochter die Schuld für die Übergriffe. Sie sei eine Verführerin und «Lolita». Alice Munro kehrte nach einem Monat zu ihrem Mann zurück. Von da habe sie nicht mehr über den Missbrauch gesprochen, so Skinner.

Die vertieften Recherchen des «New Yorker»

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Im Dezember 2024 erschien im Magazin «The New Yorker» eine ausführliche Reportage mit dem Titel «Alice Munro’s Passive Voice». Es kommen darin verschiedene Stimmen aus dem literarischen Umfeld sowie der Familie Munro zu Wort.

Andrea Skinner berichtet, wie Gerald Fremlin 1976 begann, sie sexuell zu missbrauchen. Als sich Skinner zuerst ihrem leiblichen Vater, Jim Munro, anvertraute, entschied dieser, dass Alice Munro davon nichts erfahren dürfe, weil sie zu labil sei.

Erst mit 25 Jahren wendete sich Andrea Skinner an ihre Mutter. Munro habe ihr damals wie zufällig von einem Buch über den Missbrauch eines Vaters an seiner Tochter erzählt, in dem das betroffene Mädchen sich nicht traue, der Mutter etwas zu sagen. Nach diesem Gespräch war für Andrea Skinner klar, dass ihre Mutter vom sexuellen Missbrauch in ihrer Familie gewusst haben musste.

Nachdem Andrea Skinner offenbarte, was Fremlin ihr angetan hatte, verriet Alice Munro ihrer Tochter, dass ein Paar aus der Nachbarschaft ihr mitgeteilt hatte, dass Fremlin auch deren 14-jährige Tochter belästigt habe.

Alice Munro konfrontierte ihren Mann zuerst mit seiner Pädophilie. Wenig später sprach sie aber nicht mehr vom Missbrauch, sondern nur gelegentlich von «Trouble» in der Familie, erzählt Andrea Skinner.

Während all der Zeit tat Gerald Fremlin so, als sei seine Stieftochter die Schuldige. Als Andrea Skinner 2002 selbst Mutter wurde, verlangte sie von Fremlin die Bestätigung, dass er seine Pädophilie überwunden habe. Er reagierte mit neuen Schuldzuweisungen.

2004 zeigte Andrea Skinner ihren Stiefvater an. Er gab seine Taten schliesslich zu und erhielt eine Haftstrafe auf Bewährung. Gerald Fremlin starb 2013. Die Öffentlichkeit erfuhr davon erst im Sommer 2024, zwei Monate nach Alice Munros Tod.

Im Stich gelassen

Wie das «New York Times Magazine» schreibt, tat die Familie Munro das, was auch in anderen Familien nach Missbrauchsfällen passieren kann: Sie versuchten weiterzuleben, als wäre nichts geschehen.

Frau mit grauem Haar sitzt neben einem Fenster und schaut hinaus.
Legende: Andrea Skinner ist die jüngste Tochter von Alice Munro. Sie war 25 Jahre alt, als sie ihrer Mutter von dem Missbrauch durch ihren Stiefvater erzählte. Getty Images/Steve Russell/Toronto Star

Der Schmerz, dass eine Person, die man liebt, solche Gewalt ausübt und die Angst, dass die ganze Familie auseinanderbricht, können dazu führen, dass Familienmitglieder passiv bleiben. Für Andrea Skinner war diese Passivität aber verheerend. Sie fühlte sich im Stich gelassen und litt jahrelang unter psychischen Problemen.

Schreiben als Bewältigungsstrategie?

Warum sich Alice Munro nicht auf die Seite ihrer Tochter stellte, lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Ihre Passivität ist aber umso bemerkenswerter, weil sie als Schriftstellerin explizit über Pädophilie und sexuellen Missbrauch schrieb.

Wer war die Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro?

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Die Kanadierin kam 1931 in Wingham, Ontario zur Welt. Berühmt wurde sie vor allem mit ihren Kurzgeschichten, in deren Zentrum oft Frauenfiguren und ihre Sehnsüchte und Nöte stehen. Darüber hinaus galt Munro als Pionierin des Feminismus und setzte sich ein für die Emanzipation der Frau.

Ihr Verhalten nach dem Missbrauch an ihrer Tochter, Andrea Skinner, war für die Literaturwelt darum umso erschütternder. Alice Munro erhielt unzählige Literatur-Preise und wurde 2013 als «Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte» mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.

Im Mai 2024 starb Alice Munro nach längerer Demenz-Krankheit im Alter von 92 Jahren.

Zum Beispiel in «Vandalen», die Geschichte einer Frau, die tatenlos beobachtet, wie ihr Partner sich an einem Nachbarskind vergreift. Die Erzählung erschien 1993. Ein Jahr, nachdem Andrea ihrer Mutter vom sexuellen Missbrauch erzählt hatte.

Die Schriftstellerin Mary Gaitskill stellte unlängst die These auf, dass Munro mit ihren Geschichten versuchte, ihre reale Situation in der Familie zu bewältigen. Das bleibt eine Vermutung. Munros Texte werden aber nun immer vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs gelesen werden.

Die passive Beobachterin

Die Nobelpreisträgerin Alice Munro brillierte als Schriftstellerin in der Rolle der zurückhaltenden Beobachterin. Damit schaffte sie es, Mitgefühl zu wecken. In der Realität bedeutete die passive Zurückhaltung für Munros Tochter hingegen eine enorme Verletzung. Damit wird drastisch sichtbar, wie sehr sich die Rolle einer Schriftstellerin unterscheidet von jener eines Mitmenschen.

Munros Verhalten kann nicht entschuldigt werden. Bei all den postumen Schuldzuweisungen darf aber nicht vergessen gehen, dass es nicht sie, sondern ihr Mann Gerald Fremlin war, der den sexuellen Missbrauch begangen hat.

Das Schweigen in der Familie Munro macht vor allem deutlich, wie wichtig Anlaufstellen sind für Opfer sexualisierter Gewalt. Es ist zu hoffen, dass es für Andrea Skinner heilsam ist, öffentlich über ihre Erfahrungen zu reden. Die Öffentlichkeit sollte ihrerseits sensibilisiert und nicht dazu aufgerufen werden, die Autorin Munro und ihr Werk zu ächten.

Hilfe für Missbrauchsbetroffene

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 31.1.2025, 17:40 Uhr

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