Das Entsetzen war gross, als Andrea Skinner im Sommer 2024 publik machte, dass sie über Jahre von Gerald Fremlin, dem zweiten Ehemann ihrer Mutter, Alice Munro, sexuell missbraucht wurde. Mittlerweile veröffentlichten der «New Yorker» und das «New York Times Magazine» neue Details.
Andrea Skinner war 25 Jahre alt, als sie ihre Mutter 1992 ins Vertrauen zog. Aufgrund der Reaktion von Munro, geht Andrea Skinner davon aus, dass ihre Mutter schon davor von den Übergriffen wusste, aber dazu schwieg. Kurz darauf schrieb Skinner ihrer Mutter einen Brief und schilderte detaillierter, was Gerald Fremlin ihr angetan hatte. Munro verliess daraufhin das gemeinsame Haus und liess den Brief sichtbar liegen.
Fremlin las den Brief, kommentierte ihn und gab der Tochter die Schuld für die Übergriffe. Sie sei eine Verführerin und «Lolita». Alice Munro kehrte nach einem Monat zu ihrem Mann zurück. Von da habe sie nicht mehr über den Missbrauch gesprochen, so Skinner.
Im Stich gelassen
Wie das «New York Times Magazine» schreibt, tat die Familie Munro das, was auch in anderen Familien nach Missbrauchsfällen passieren kann: Sie versuchten weiterzuleben, als wäre nichts geschehen.
Der Schmerz, dass eine Person, die man liebt, solche Gewalt ausübt und die Angst, dass die ganze Familie auseinanderbricht, können dazu führen, dass Familienmitglieder passiv bleiben. Für Andrea Skinner war diese Passivität aber verheerend. Sie fühlte sich im Stich gelassen und litt jahrelang unter psychischen Problemen.
Schreiben als Bewältigungsstrategie?
Warum sich Alice Munro nicht auf die Seite ihrer Tochter stellte, lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Ihre Passivität ist aber umso bemerkenswerter, weil sie als Schriftstellerin explizit über Pädophilie und sexuellen Missbrauch schrieb.
Zum Beispiel in «Vandalen», die Geschichte einer Frau, die tatenlos beobachtet, wie ihr Partner sich an einem Nachbarskind vergreift. Die Erzählung erschien 1993. Ein Jahr, nachdem Andrea ihrer Mutter vom sexuellen Missbrauch erzählt hatte.
Die Schriftstellerin Mary Gaitskill stellte unlängst die These auf, dass Munro mit ihren Geschichten versuchte, ihre reale Situation in der Familie zu bewältigen. Das bleibt eine Vermutung. Munros Texte werden aber nun immer vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs gelesen werden.
Die passive Beobachterin
Die Nobelpreisträgerin Alice Munro brillierte als Schriftstellerin in der Rolle der zurückhaltenden Beobachterin. Damit schaffte sie es, Mitgefühl zu wecken. In der Realität bedeutete die passive Zurückhaltung für Munros Tochter hingegen eine enorme Verletzung. Damit wird drastisch sichtbar, wie sehr sich die Rolle einer Schriftstellerin unterscheidet von jener eines Mitmenschen.
Munros Verhalten kann nicht entschuldigt werden. Bei all den postumen Schuldzuweisungen darf aber nicht vergessen gehen, dass es nicht sie, sondern ihr Mann Gerald Fremlin war, der den sexuellen Missbrauch begangen hat.
Das Schweigen in der Familie Munro macht vor allem deutlich, wie wichtig Anlaufstellen sind für Opfer sexualisierter Gewalt. Es ist zu hoffen, dass es für Andrea Skinner heilsam ist, öffentlich über ihre Erfahrungen zu reden. Die Öffentlichkeit sollte ihrerseits sensibilisiert und nicht dazu aufgerufen werden, die Autorin Munro und ihr Werk zu ächten.