Worum geht es? Die im Mai im Alter von 92 Jahren verstorbene kanadische Schriftstellerin Alice Munro zählt zu den weltweit angesehensten Autorinnen der Gegenwart. Ihre heute 58-jährige Tochter Andrea Skinner hat in der kanadischen Zeitung «Toronto Star» publik gemacht, dass ihr Stiefvater sie über Jahre sexuell missbraucht hat.
Der erste Missbrauch fand 1976 statt. Andrea Skinner war neun Jahre alt. Die Übergriffe setzten sich über Jahre fort. Einzelne Familienmitglieder hätten davon gewusst, jedoch geschwiegen. Sie selbst, schreibt Andrea Skinner, habe massive psychosomatische Symptome entwickelt: Migräne und Essstörungen.
Was wusste Alice Munro? Im Alter von 25 Jahren berichtete sie ihrer Mutter von den pädophilen Handlungen. Diese habe jedoch kaum Mitgefühl gezeigt, sondern sich vielmehr selbst als Opfer dargestellt und beklagt, dass sie von ihrem Ehemann mit der Tochter betrogen worden sei. Ihren Ehemann verliess Munro nicht.
Wer ist der Stiefvater? Der Stiefvater war Alice Munros zweiter Ehemann Gerold Fremlin. Die Autorin heiratete ihn 1976, nachdem sie sich von ihrem ersten Gatten James Munro getrennt hatte. Letzterer war der leibliche Vater von Andrea Skinner. 2004 zeigte Andrea Skinner ihren Stiefvater Gerold Fremlin an. Er gab seine Taten zu und erhielt eine Haftstrafe auf Bewährung. Gerold Fremlin starb 2013.
Warum erfolgt die Enthüllung erst jetzt? Andrea Skinner hat möglicherweise vor dem Ableben der Mutter nicht die Kraft aufgebracht, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, erklärt Literaturredaktor Felix Münger. Vermutlich wartete sie auch aus Rücksichtnahme auf Alice Munros Ruf so lange. Nach dem Tod der Autorin, heisst es von Andrea Skinner, wolle sie sicherstellen, dass ihre Geschichte «Teil der Geschichten wird, welche die Leute über meine Mutter erzählen».
Was bedeutet das für das öffentliche Bild von Alice Munro? Das bisher allgemein positive Bild von Alice Munro ist zweifelsohne beschädigt, so Münger. So zeigte sich etwa Margaret Atwood, die andere «Grand Old Lady» der kanadischen Literatur und Freundin von Alice Munro, «schockiert» ob des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs. Pikant ist zudem, dass Alice Munro stets gefeiert wurde für ihren scharfen Blick, insbesondere für harte Frauen- und Kinderschicksale. Auch wusste sie in ihren Texten meisterhaft über das Schweigen und Verschweigen in Familien zu schreiben.
Heute stellt sich die Frage, wie sehr diese Autorin, die als Mutter und Mensch offenkundig geradezu spektakulär versagte, auch von sich selbst erzählt hat. Die folgende und derzeit viel zitierte Aussage einer Figur aus einer der letzten Erzählungen von Alice Munro scheint diese These zu stützen: «Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind oder wir sie uns nie verzeihen werden. Aber genau das tun wir – wir tun es immerzu.»
Was bedeuten die Enthüllungen für die Lektüre der Munro-Texte? Die Frage «Lassen sich Werk und Biografie von Künstlerinnen und Künstlern trennen» ist uralt. Und sie hat sich in jüngerer Zeit etwa bei Rammstein oder Roman Polanski gestellt. Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Sicher bleibt Alice Munros literarisches Werk für sich genommen herausragend. Doch eine von den aktuellen Enthüllungen unbelastete Lektüre wird nie mehr möglich sein. Das moralisch unentschuldbare Verhalten gegenüber der Tochter wird immer mitschwingen. Dass dem so ist, hat sich Alice Munro selbst zuzuschreiben.