Lina* war 12-jährig, als sie das erste Mal von ihrem Onkel sexuell missbraucht wurde. Die Übergriffe haben sehr schleichend begonnen: «Es begann mit Berührungen über den Kleidern, dann mit Berührungen unter den Kleidern. Dann kam Küssen hinzu. Mal auf den Mund, dann mit Zunge. Es hat sich so langsam gesteigert auf eine perfide Art.» Wenn es sich so langsam steigere, so Lina, sei es viel schwieriger als Kind die Grenzen zu erkennen, ab wann etwas nicht mehr okay sei.
Es begann mit Berührungen über den Kleidern, dann mit Berührungen unter den Kleidern. Dann kam Küssen hinzu. Mal auf den Mund, dann mit Zunge. Es hat sich so langsam gesteigert.
Niemand im Umfeld hatte etwas geahnt. Auch nicht die eigene Familie. Lina erinnert sich: «Er hat das mit offenen Türen und teils im Flur gemacht. Es hätten auch andere Leute sehen können. Und das hat mir als Kind das Gefühl gegeben, dass das wohl okay sein muss.»
Jedes siebte Kind von sexualisierter Gewalt betroffen
Lina ist kein Einzelfall. Jedes siebte Kind in der Schweiz erlebt sexualisierte Gewalt durch einen Erwachsenen. In den meisten Fällen stammen die Täter und Täterinnen aus dem eigenen sozialen Umfeld, aus der Familie, dem Bekanntenkreis, der Schule oder dem Freizeitverein.
Viele Fälle mit Verurteilungen wegen sexueller Ausbeutung von Kindern begannen mit Grenzverletzungen im Graubereich - oft vor den Augen anderer, erklärt die Expertin für sexualierte Gewalt und langjährige Opferhilfe-Beraterin, Agota Lavoyer. Das sei auch eine typische Täterstrategie, um zu schauen, ob jemand interveniere oder nicht.
Es gibt nichts Abschreckenderes für einen Täter oder eine Täterin, als ein Umfeld, in dem offen über die Grenzen, Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt gesprochen wird.»
Neues Buch «Ist das okay?» bricht Tabu
Viele Eltern sind verunsichert, wie sie mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen sollen. Lavoyer hat nun ein Buch geschrieben, das dabei helfen soll, Kinder besser zu schützen. Das Buch trägt den Titel «Ist das okay?» - bereits ein Beststeller in der Schweiz. Es richtet sich an Erwachsene und Kinder gleichermassen. Im Buch geht um ganz alltägliche Situationen. Lavoyer nennt mehrere Bespiele: «Wenn sich das Kind vor einem umzieht, kann man es beispielsweise fragen: 'Wäre es jetzt okay, wenn dich jemand nackt fotografiert? Schon ist man mittem im Thema und man merkt, ob das Kind die richtige Antwort weiss.»
Darf man ein Kind auf die Lippen küssen ? Wer darf das, wer nicht? Darf das niemand? Was möchte das Kind überhaupt?
Oder die Frage beim Duschen: «Mit einem Kind duschen oder baden - darf man das? Bei wem ist das okay, bei wem nicht?» Oder beim Küssen: «Darf man ein Kind auf die Lippen küssen oder nicht? Möchte das Kind das überhaupt?». Es gehe darum, Kinder für Grenzüberschreitungen zu sensibilieren und ihnen aufzuzeigen, was Erwachsene dürfen und was eben nicht.
Viele Kinder schweigen
Rund die Hälfte der betroffenen Kinder erzählen niemandem von erlebten sexuellen Übergriffen. Oft auch weil die Täterinnen oder Täter die Kinder auf manipulative Art dazu bringen, das Geschehene für sich zu behalten.
Er hat das mit offenen Türen und teils im Flur gemacht. Es hätten immer auch andere Leute sehen können. Und das hat mir als Kind das Gefühl gegeben, dass das wohl okay sein muss.
Auch Lina hat sich erst Jahre später, als Erwachsene, jemandem anvertraut. Rückblickend sagt die heute 29-Jährige: «Das Beste wäre gewesen, wenn es jemand gesehen und mir gesagt hätte: 'Hey, was er mit dir macht, ist nicht in Ordnung.' Aber damals als Kind wusste ich das nicht.»
«Über sexualisierte Gewalt sprechen schreckt Täter ab»
Pro Schulklasse sind gemäss Studien durchschnittlich zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen. Trotzdem wird mit Kindern wenig darüber gesprochen. Dabei sei das die beste Prävention, betont Agota Lavoyer: «Es gibt nichts Abschreckenderes für einen Täter oder eine Täterin, als ein Umfeld, in dem offen über Grenzen, Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt gesprochen wird.»
*Name der Redaktion bekannt