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«Manchmal ist es schon schwierig», sagt Benedict. «Kürzlich hat mich eine Kollegin angefaucht, weil ich ihr die Tür aufgehalten habe. Dafür brauche sie keinen Mann, sagte sie.»
Sasha, der neben ihm sitzt, schüttelt lachend den Kopf: «Und ein Mitschüler von mir wurde von seiner Lehrerin zusammengeschissen, weil er ihr die Tür nicht aufgehalten hat.»
Revolution der Geschlechterverhältnisse
Wir sitzen zu fünft an einem Tisch in einem hellen Klassenzimmer im Zürcher Gymnasium Rämibühl. Durch den Park vor den grossen Fenstern ziehen Nebelschwaden. Hier, im Zimmer 414, wollen wir über Männlichkeit sprechen.
Der Mann steckt in der Krise, heisst es immer wieder. «Was Geschlechterverhältnisse angeht, erleben wir zurzeit die grösste Revolution, die es je gab», sagt Walter Hollstein. Er ist emeritierter Professor für Soziologie. Oft wird er auch Männerforscher genannt.
«Zu Schillers Zeiten waren die Verhältnisse klar», sagt Hollstein: «‹Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, (…) und drinnen waltet die züchtige Hausfrau.›» Diese klare Rollenverteilung sei verschwunden, mit positiven und negativen Folgen für beide Geschlechter.
Massive Verunsicherung
Für den Mann bedeute das Verschwinden klarer Verhältnisse erstmal eine «massive Verunsicherung», sagt Hollstein. Die Folgen sind seiner Meinung nach gravierend: Junge Männer sind häufiger gewalttätig als gleichaltrige Frauen. Sie sind häufiger kriminell. Und die Suizidrate ist bei ihnen markant höher. Hollstein sieht diese Probleme als direkte Folge jener tiefen Verunsicherung, die er bei Männern heute ausmacht.
Hadert der Mann also damit, dass er nicht mehr weiss, wann er ein Mann ist? Im Klassenzimmer klingt das ein wenig anders. Bei der Frage, was männlich sei, überlegen die vier Gymnasiasten nicht lange: «Männer sind sportlicher», sagt Simon. Benedict ergänzt: «Männer messen sich lieber. Ein Mann will der Beste sein.»
«Von Männern wird erwartet, dass sie Geld verdienen, einen Job haben», meint Kareem. Sie gehen auch anders mit Konflikten um: «Männer sind schneller wieder im Reinen, sie lassen das nicht so einwirken», sagt Sasha.
Klassisches Bild von Männlichkeit
Lu Decurtins überrascht das nicht. Der Sozialpädagoge ist Co-Präsident der Fachstelle «Jumpps» für Jungen- und Mädchenpädagogik. Er sagt: «Es gibt durchaus noch ein klares Männerbild, das Jungs zumindest in den Hinterköpfen tragen: Männer verdienen viel Geld und sind unabhängig. Sie sollen gross, stark, souverän und mutig sein. Sie reden nicht viel von sich persönlich und geben keine Gefühle preis.»
Es braucht viel Selbstvertrauen und eine verankerte Identität, um von diesem Bild abzuweichen: «Die Frage ist: Wie sicher bin ich mir in meiner Männlichkeit – wie weit kann ich gehen, ohne dass die andern mich als unmännlich empfinden?»
Widersprüchliche Erwartungen
Die Erwartungen, die heute an den Mann gestellt werden, sind widersprüchlich. Zum einen sitzt das klassische Bild von Männlichkeit noch in den Köpfen. Gerade junge Männer stehen noch immer unter Druck, diesem Bild zu entsprechen. Gleichzeitig begegnen sie laufend Erwartungen, die diesem widersprechen.
«Die Erwartungen, die heute an junge Männer gestellt werden, sind fast schon unmenschlich», sagt der Psychologe Allan Guggenbühl. «Sie müssen nach wie vor erfolgreich sein, Geld verdienen, in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Gleichzeitig sollen sie auch empathisch sein, im Haushalt mitmachen.» Widersprüche, die sich nicht leicht auflösen lassen.
James Bond mit Babytrage
Die männlichen Vorbilder, die die vier jungen Männer im Schulzimmer aufzählen, reflektieren zum Teil diese widersprüchlichen Anforderungen. Daniel Craig wird beispielsweise genannt – der Schauspieler, der als James Bond das klassische Männerbild verkörpert. Der aber kürzlich auch eine Debatte über Männlichkeit entfachte, weil er mit einer Babytrage fotografiert wurde.
Viele der genannten Idole entsprechen einem klassischen Männlichkeitsbild. Der Fussballer Ronaldo etwa oder der Instagram-Playboy Dan Bilzerian. Aber es fällt auch der Name Justin Baldoni – ein Schauspieler, der sich in einem Vortrag sehr kritisch zum gängigen Männerbild in Hollywood-Filmen äusserte.
Türe aufhalten oder nicht?
«Früher gab es dieses klare Männerbild», sagt Benedict. «Aber heute ist das so verschwommen.» Jeder habe eine eigene Vorstellung von Männlichkeit. «Das ist manchmal schon sehr verwirrend. Ich verhalte mich so, wie ich glaube, dass es richtig ist. Aber das ist eben auch subjektiv.»
Denn die Erwartungen können so widersprüchlich sein wie zwischen der Mitschülerin, der man die Tür nicht aufhalten darf und der Lehrerin, die genau das erwartet.
An der Jungenschule
Tief verunsichert wirken sie aber nicht, die jungen Männer, die im Klassenzimmer am Tisch sitzen. Ab und zu schütteln sie den Kopf, zucken mit den Schultern. Sie lachen viel.
Das MNG ist das «mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium» im Rämibühl. Es gilt als Jungenschule. Wie in allen Gymnasien des Kantons ist auch hier der Mädchenanteil in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Trotzdem sind am MNG, dem mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium, die Jungen immer noch leicht in der Überzahl.
«Ein gigantischer Zoo»
«Ich war mit Simon und Benedict mal in einer reinen Bubenklasse», erinnert sich Kareem. «Da war die Stimmung schon sehr anders.» «Ein gigantischer Zoo war das», ruft Benedict dazwischen.
In einer gemischten Klasse sei die Atmosphäre anders. Weil die Mädchen fleissiger seien, sind sich die vier Gymnasiasten einig. Sie lernten mehr – und hätten darum die besseren Noten. «Ein Lehrer hat uns das auch schon gesagt: ‹Mädchen sind einfach besser in der Schule›», sagt Sasha.
Sind Mädchen fleissiger?
«Mädchen bewegen sich an der Schule mit grösserer Leichtigkeit», sagt auch Allan Guggenbühl. Sie würden erfüllen, was von ihnen erwartet wird. «Buben fällt es schwerer, auch mal etwas zu tun, das sie nicht interessiert. Sie finden dann: ‹Französisch werde ich nie lernen. Punkt.›»
Auch dieser schulische Fleiss hat viel mit Männlichkeitsbildern zu tun. Lu Decurtins: «Ich glaube nicht, dass Mädchen einfach fleissiger sind.» Aber bei Buben gelte das Lernen, das Fleissigsein eben als uncool: «Fürs Wörtli-Lernen gibt es keine Punkte bei der Bubengruppe.»
Er sei schon Buben begegnet, die die Hausaufgaben machen, in der Schule aber behaupten, es nicht getan zu haben. Nur um vor Kollegen besser dazustehen.
Bei Buben sei dieser Rollendruck immer noch stark, sagt Decurtins. «Das Geschlechterbild ist restriktiver als bei den Mädchen.»
Brechen mit dem Geschlechterbild
Zwar weiche sich das klassische Bild von Männlichkeit langsam auf. Aber Buben falle es immer noch schwerer, mit dem herrschenden Geschlechterbild zu brechen als Mädchen.
Einen Grund dafür sieht er darin, dass Buben heute schlicht zu wenig Kontakt mit erwachsenen Männern hätten. In der Schule haben die Buben vor allem mit Frauen zu tun.
Mehr Frauen – daheim und in der Schule
In der Primarschule und der ersten Sekundarstufe sind nur ein Viertel der Lehrkräfte Männer. In der ersten und zweiten Primar sind es sogar nur 5 Prozent. Ab der zweiten Sekundarstufe sind männliche Lehrpersonen hingegen in der Mehrzahl.
Auch zuhause sind die Männer deutlich weniger präsent als Frauen. Zwar ist der Anteil der erwerbstätigen Frauen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Der Anteil der Teilzeit arbeitenden ist bei den Frauen aber markant höher als bei den Männern. Frauen arbeiten mehrheitlich Teilzeit, bei den Männern haben über 80 Prozent ein Vollzeitpensum.
Fehlende Vorbilder
Das heisst: Auch heute noch ist ein grosser Teil der Väter nur am Abend und an Wochenenden zuhause. Es fehle an männlichen Vorbildern, sagt Walter Hollstein: «Wenn ich als Junge wissen will, wie ein Mann ist, brauche ich ein Surrogat, also Männer, die ich im TV, in Comics oder in den sozialen Medien sehe.»
Superhelden also. Oder Fussballer. Rapper. Oder Fitness-Instagrammer. «Buben sehen so vor allem eine sehr plakative Form von Männlichkeit», sagt Decurtins.
Würden sie im Alltag öfters normalen Männern begeben, würde dieses Bild wohl ins Wanken geraten: «Wenn der Vater zuhause putzt und kocht, dann merken sie, dass er primär Mensch ist.»
Im Alltag ist der Mann auch mal schwach
Der alltägliche Mann in einer direkten Beziehung zum Jungen rüttelt unweigerlich an den althergebrachten Rollenbildern – denn Kindergärtner, Lehrer und Väter sind nicht immer stark, souverän und erfolgreich.
«Solche männlichen Bezugspersonen sind direkt und echt erlebbar. So können Buben zum Beispiel erleben, dass auch Männer schwach oder traurig sein können», sagt Sozialpädagoge Decurtins.
Das problematische Geschlecht
Nochmals in einem anderen Licht erschienen Männer in jüngster Zeit in den Medien. «MeToo» holte Jahrzehnte männlicher Übergriffigkeit ans Licht, zeigt den Mann als Täter.
«Der Mann wird heute als problematisches Geschlecht wahrgenommen», sagt Allan Guggenbühl. Männer hätten eine lange Geschichte von patriarchalischem Machtmissbrauch hinter sich – die gelte es nun langsam abzutragen.
«Das führt aber auch dazu, dass gewisse männliche Eigenschaften, die man positiv oder negativ betrachten könnte, nur noch als problematisch angeschaut werden», sagt Guggenbühl.
Als Beispiel für solche Eigenschaften nennt er die Tendenz zur Übertreibung, zur Inszenierung von Selbstsicherheit.
Auf dem Prüfstand
Eine Diskussion, die auch Unschuldige trifft, sagt Walter Hollstein: «Männer sind heute auf dem Prüfstand. Sie sind oft der Sündenbock.» Gerade bei der grossen Zahl junger Männer, die sich Frauen gegenüber korrekt verhalten, führe das zu einer Verunsicherung.
Die jungen Männer im Zimmer 414 haben Verständnis für die Anliegen von «MeToo», halten aber die Diskussion stellenweise auch für übertrieben. Sie haben erlebt, wie Freundinnen im Club belästigt wurden. Das geht nicht. Sie haben auch erlebt, wie Freunde angeschrien wurden, weil ihnen zu Unrecht eine übergriffige Berührung unterstellt wurde.
Der erste Schritt
Sind sie deswegen im Umgang mit Frauen verunsichert? «Die Frauen wollen schon, dass wir den ersten Schritt machen», sagt Simon. Von Männern werde erwartet, dass sie die Initiative ergreifen, gleichzeitig aber immer den richtigen Ton treffen. «Da kann es der Mann dann nicht recht machen.»
Man könne aber auch lernen, wie man sich Frauen gegenüber verhalten soll, sagt Simon: «Mit der Zeit kann man das besser einschätzen. Diese Balance zu finden, darum geht's. Übung macht den Meister!».
Chance zur Reflexion
Dennoch: «Insgesamt ist das Bild des Mannes belastet», sagt Decurtins. Dass diese Fragen diskutiert werden, sei aber richtig. Das sei auch eine Chance für Männer, sich zu reflektieren und zu entwickeln.
«Es wäre wichtig, dass auch Männer sich mehr in diese Debatte einbringen», findet Sozialpädagoge Decurtins. Männer dürften von dieser Diskussion nicht gekränkt sein, sondern müssten die Herausforderung annehmen.
«Es fehlt an Forschung»
Die Konflikte zwischen sich widersprechenden Vorstellungen von Männlichkeit verursachen durchaus eine gewisse Verunsicherung. Das ist auch bei den jungen Männern am Rämibühl spürbar.
Besteht deshalb Handlungsbedarf? Für Walter Hollstein fehlt es an ganz Grundlegendem: «Zuallererst muss das Problem zur Kenntnis genommen werden. Dann fehlt es an Forschung über Buben und junge Männer.» Erst wenn umfassendere Daten vorliegen, können Massnahmen erarbeitet werden.
Genau hinschauen
Zudem wünscht sich der Soziologe Walter Hollstein genauso wie Psychologe Allan Guggenbühl einen positiveren Blick auf Männlichkeit. Dass man genauer hinschaut und junge Männer so wahrnimmt, wie sie wirklich sind. Und nicht aufgrund von Vorurteilen.
Sozialpädagoge Lu Decurtins’ wichtigstes Anliegen ist es, dass sich Männer mehr in Care-Berufen engagieren. Dass sie stärker in Erscheinung treten – als Väter, in sozialen Berufen und in Schulen.
«Mit grosser Akzeptanz»
Im Schulzimmer im Rämibühl wünscht man sich mehr Pragmatismus. Kareem sagt: «Ich finde es schade, dass immer alles so aufgebauscht wird. Wenn es konkrete Probleme gibt, sollte man Lösungen suchen. Aber wenn man immer eine riesige Szene daraus macht, führt das zu Streit und einer Spaltung, die nicht sein müsste.»
Simon hat eine relativ einfache Antwort auf die Frage, wie man mit diesen Konflikten von verschiedenen Rollenbildern umgehen sollte: «Mit grosser Akzeptanz. Man muss jeden so akzeptieren, wie er ist.»