Vor 20 Jahren veröffentlichte Rolf Dobelli seinen Midlife-Roman «Fünfunddreissig». Sein Protagonist Gehrer brannte von Harvard nach Indien durch – und zurück in Zürich steckt er wortwörtlich fest: allein, im Regen, auf einer Bank am See und das an seinem 35. Geburtstag …
So sinniert Gehrer über den körperlichen wie geistigen Zerfall, der in diesem Alter eintritt. Heute schreibt Rolf Dobelli Sachbücher statt Romane – die Midlife-Crisis hat er mit 57 Jahren längst hinter sich gelassen. Im Gespräch schaut er zurück auf diese Zeit, die er so gar nicht vermisst.
SRF: Sie haben im Vorfeld unseres Gesprächs Ihren Debütroman «Fünfunddreissig» nach 20 Jahren selbst wieder gelesen. Ihr Eindruck?
Rolf Dobelli: Ich kann hinter dem meisten heute noch stehen. Die «max-frischige» Sprache, Stil und Aufbau gefallen mir. Ebenso die Idee mit der Flucht von Gehrer aus Harvard nach Indien. Dass es keinen Plot und keinen richtigen Schluss hat, finde ich hingegen schade. Gehrer entschuldigt sich im Buch sogar dafür…
«Nichts an Gehrer taugt für einen Roman», heisst es. Die vermeintliche Flucht entpuppt sich als völlige Blockade.
Ja, das ist jetzt halt so. Schade finde ich auch, dass ich den Schreibstil in den darauffolgenden Büchern verlassen habe. Es hätte mich gereizt, den Frisch-Stil zu schärfen.
Sie haben das Buch mit 35 geschrieben. Würden Sie zurückwollen?
Der Roman war ungeplant: Ich lag an meinem 35. Geburtstag in Belize am Strand und schrieb erste Notizen. Und nein, ich möchte auf keinen Fall zurück.
Die Verachtung des Managementbullshit ist weiterhin stark
Diese Suche nach Orientierung, welche die meisten Leute zwischen 35 und 45 verspüren, ist heute weg. Ich weiss heute genau, was ich kann und nicht kann und wohin ich will und wohin nicht. Dieses Wissen ist Lebensqualität.
Wie viel von der Hauptperson Gehrer erkennen Sie 20 Jahre später noch an sich?
Die Verachtung des Managementbullshit ist weiterhin stark. Ich habe das bisher nie öffentlich gesagt: Den Namen Gehrer hatte ich vom damaligen Manager des Swissôtel in Basel. Ich führte dort ein Kostensenkungsprojekt durch und fand den Mann etwas unsympathisch … und ich suchte nach einem grauen Namen für die Hauptfigur im Roman.
Aber zurück zur Frage: Auch die Rationalisierung der Emotionen, ein klassisches Max-Frisch-Thema, ist geblieben. Jedoch könnte ich nie einen ganzen Tag lang untätig am See sitzen.
35 sei ein «seltsames Jahr», sagt Gehrer. Ist es denn nicht die beste Zeit des Lebens?
Wenn Sie gefunden haben, was Sie suchen, mag es das beste Alter sein. Doch Gehrer erkennt die Sinnlosigkeit seines Postens im Middle-Management. Er weiss nicht, wohin und ist «stuck in life». Ich kenne genügend Leute bei Banken, Versicherungen, in der öffentlichen Verwaltung, die da gelandet sind.
Gehrer gelingt es gerade mal für ein paar Wochen auszubrechen, und er legt es nicht mal offen. Am Schluss ist er wieder am Ausgangspunkt. Das ist seine Tragik.
Gehrer ist noch nicht alt, aber das Älterwerden zeichnet sich ab. Ist es das, was vielen Mühe bereitet?
Ja, es kommt eine jüngere Generation, das hat mich damals erschreckt. Leute mit viel Status sind plötzlich jünger als du. Bundesräte zum Beispiel waren früher uralte Tiere.
Ich glaube, die klassische Midlife-Crisis ist vorbei, es gibt viele Krisen im Leben.
Oder Chefredaktoren: Genau zu dieser Zeit wurde Roger Köppel, mit dem ich befreundet bin, mit nicht mal 40 Jahren Chefredaktor der Zeitung «Welt». Plötzlich wird man links und rechts überholt.
«Früher war der Körper einfach da. Jetzt wird er zur Sorge»: Ist «Fünfunddreissig» ein pessimistisches Buch?
Vielleicht fühlen sich einige noch jung und haben Energie. Aber die ersten Anzeichen von körperlichem Zerfall sind unübersehbar: Das Haar ist nicht mehr so buschig, man gerät schnell aus der Form und es klappt nicht mehr jedes Mal beim Sex. Unter 30 geht es immer.
Würde sich die Geschichte heute gleich abspielen?
Das kann ich nicht beurteilen, vielleicht hat sich die Gesamtsituation geändert: Viele Leute sind nicht mehr einfach angestellt und machen bei der gleichen Bude die klassische Karriere. Einige sind Freelancer, haben eigene Unternehmen und sind insgesamt freier. Es herrscht ein anderer Groove, die Start-up-Mentalität hat damals, als ich das Buch schrieb, grad erst angefangen.
Was hilft, wenn man erkennt, dass die Tätigkeit nutzlos erscheint. Eine Flucht ins exotische Indien wie bei Gehrer?
Bei mir war das tatsächlich so. Ich hatte zwar ein Start-up «Getabstract», mit dem ich mich identifizieren konnte, bin dann aber mit dem Rucksack und fünf Dollar am Tag durch Indien gereist. Wenn jemand in der Midlife-Crisis steckt, tut ein Tapetenwechsel gut. Indien ist wie ein anderer Planet, in den man mit Haut und Haar eintauchen kann. Vielleicht löst es etwas aus, andere gehen besser zum Therapeuten.
Gibt es die Midlife-Crisis denn wirklich?
Das müssten Sie einen Psychologen fragen, aber ich habe eine Hypothese: Periodisch kommen wir an Punkte, wo wir das Leben neu justieren müssen.
Stimmen die Ziele? Habe ich überhaupt Ziele? Soll ich mir neue setzen? Das muss nicht in der Mitte sein, sondern kann an verschiedenen Stationen passieren. Ich glaube, die klassische Midlife-Crisis ist vorbei, es gibt viele Krisen im Leben.
Haben Sie selbst auch eine Midlife-Crisis erlebt? Und wie gingen Sie damit um?
Meine Lösung war die Schriftstellerei. Mit 35 habe ich gemerkt, dass es Verleger gibt und ich mich als Schriftsteller bezeichnen kann. Ich habe zusätzlich zum Unternehmer eine neue Identität übernommen, das war mein Ausweg. Es sind dann vier Romane daraus geworden, seither schreibe ich nur noch Sachbücher. Ich habe es immer wieder mit Romanen probiert, aber meine Frau (Clara Maria Bagus, Anm. d. Red.) schreibt hundertmal besser und erfolgreicher.
Man müsste eine «Philosophie des Davonrennens» schreiben, heisst es im Roman. Wann kommt die von Ihnen?
Ich habe x Roman-Fragmente in der Schublade und immer wieder Skizzen gemacht von Geschichten, in der einer von zu Hause wegläuft und nicht mehr zurückkommt. Ich bin ständig dran, aber Romane zu schreiben ist viel schwieriger, als Sachbücher zu schreiben. Ich habe mich wohl ans Einfache gewöhnt.
Braucht es die nächste Crisis?
Vielleicht, jedenfalls ist die noch nicht im Anzug …
Das Gespräch führte Jonas Wydler.