Noch nie war meine Suche nach Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern derart zäh.
Eine, die dennoch Auskunft gibt – nennen wir sie Ursula, denn mit Klarnamen wollte schon gar niemand erscheinen –, hat eine Erklärung: «Eine Midlife-Crisis ist heute negativ konnotiert, eine Beleidigung. Da will niemand drinstecken. Aber man sieht alle anderen drinstecken.»
Carla erzählt mir, ihre beste Freundin Meret habe ihr – «ich sag’s dir aber nur im Vertrauen!» – erzählt, dass ihr Mann «gerade mitten in so einer Krise steckt». Den Mann darauf ansprechen kann ich natürlich nicht, es weiss ja offiziell keiner davon. Noch nicht mal er selbst. Nur seine Frau.
René ist Personal Trainer. Er arbeitet mit den Menschen in ihren 40ern, bei denen die sportliche Neigung ganz plötzlich durchbricht. René erzählte mir, er habe jemanden geradeheraus drauf angesprochen, «bei dem ich sicher war, dass er eine hat: ‹Wie hast du’s gemerkt?› fragte er dann zurück.» Der Kontakt brach bald danach ab.
Stellt sich mir die Frage: Wie viel Energie verwenden wir darauf, glücklicher zu erscheinen, als wir tatsächlich sind? Nicht nur vor den anderen, auch vor uns selbst.
Brigitte sagte mir, dass sie gerade drinstecke, aber nicht daran rühren wolle – «sonst heule ich gleich los».
Ein schleichender Prozess
Dieses «Nicht-dran-rühren-Wollen» kennt Christian (Name geändert) aus eigener Erfahrung genau. «Es begann schleichend», sagt er: «Ich bin nicht aufgewacht und hatte die Krise. Es begann mit der Verschlechterung des Schlafes. Ich hab’s erst gar nicht gemerkt.»
Es war ein «Sich-verschlissen-Fühlen». Eine Müdigkeit machte sich breit, die mit keinem Schlaf der Welt zu vertreiben war. Angstattacken kamen, Selbstvertrauen verschwand.
Ich bemitleidete mich selbst: Ich kann nicht mehr. Was ist aus meinen Träumen geworden?
«Es war eine totale Überlastung im Gesamtpaket», sagt Christian: «Ich bemitleidete mich selbst: Ich kann nicht mehr. Was ist aus meinen Träumen geworden?»
Permanent dachte er an die Summe der Dinge, die nicht funktionieren, die man aber in einer normalen Gestimmtheit mit Humor und Gelassenheit nehmen würde. In dem Zustand war daran nicht zu denken. «Wahrscheinlich ist eine Midlife-Crisis die komplette Abwesenheit von Humor. Oder das Unvermögen, sich etwas schönzureden.»
Wo stehe ich?
Ulrike Ehlert leitet den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Verhaltensmedizin, Psychobiologie und stressabhängige Erkrankungen. Sie sagt, das Hinterfragen sei der Kern dieser Lebenskrise: «Das Hinterfragen von wichtigen persönlichen Zielen, die man einmal definiert hatte. Plötzlich ist man sich nicht mehr sicher, ob das alles so noch stimmt.»
Die Midlife-Crisis gilt nicht als Krankheitsbild, sondern als Phänomen, als Belastung, «aus der irgendwann eine seelische Erkrankung entstehen kann», sagt Ulrike Ehlert. «Herzerkrankungen, Depressionen, Suizide können die Folge sein.» Andererseits kenne sie genügend Menschen, bei denen sich nichts zur Krise auswachse, die würden erfolgreich irgendwie durchs Leben schlittern.
Das Thema werde interessanterweise bei Männern viel häufiger diskutiert, sagt Ehlert. Allgemein könne man sagen, dass in diesem Lebensabschnitt viele unzufrieden mit ihrer aktuellen Situation seien.
«Weil sie beruflich an dem Punkt sind, wo es nicht mehr ohne Weiteres weitergeht», sagt Ehlert. Wo sie beispielsweise erleben, «dass die Kinder mit ihrer Peergroup mehr zu tun haben als mit ihnen. Sie stehen dann als Eltern da und fragen sich: ‹Du, war's das jetzt?›.» Die Krise kann sich auf alle Lebensbereiche ausdehnen.
Alles bricht weg
Ursula beschreibt den Beginn ihrer Krise so: «Alle drei Säulen, auf denen man bis anhin gestanden hat, geraten ins Wanken: die Gesundheit, die Beziehung, die Arbeit.»
Alles regte mich auf.
Sie schlief schlecht, hatte keinen Appetit. «Das Gewicht spielt eine grosse Rolle.» Der Körper verändert sich, viele legen schneller zu. Die jugendliche Silhouette verschwindet mehr und mehr. Ursula machte viel Sport, brauchte aber mehr Aufwand, um ihre Fitness zu halten.
Ihre Kinder sagten, sie sehe Probleme, wo keine sind. «Alles regte mich auf.» Irgendwann realisierte sie, «dass die Hormone tanzen und mit einem etwas machen, was man nicht kontrollieren kann.»
Nur die Hormone?
Ursula bekam die ersten Ausläufer der Wechseljahre zu spüren. Als sie das sagte, dachte ich, da kommt mir dieser männerzentrierte Blick entgegen, Sigmund Freud lässt grüssen, der Frauen die Hysterie, die schlechte Laune und den Penisneid zuschrieb. Als ich Ursula genau das sage, legt sie nach: «Dieser chauvinistische Ansatz regt mich auch auf. Aber es ist ein Fakt, man muss auf die Wechseljahre eingehen. Das hat psychische Auswirkungen auf allen Ebenen.»
Ulrike Ehlert sagt, die Hormone nehmen bei Frauen ab einem gewissen Punkt schnell ab, bei Männern graduell und langsamer. Aber auch bei Männern tickt die Uhr.
Falten können kommen, Fettpolster, manche weinen mehr. «Für Männer ein extrem unangenehmer Zustand. Sie fragen sich: Was ist los mit mir? Und meinen, sie müssten sich etwas beweisen», sagt Ulrike Ehlert.
«Manche haben dann jüngere Geliebte oder rennen durch den Wald», sagt Ursula. Doch das bringe alles nichts, weiss Ursula aus eigener Erfahrung. «Man kann dem nicht entkommen. Das ist ein scheiss Gefühl. No way out.»
Bei Christian ging die Ehe in die Brüche. Ob die Krise die Trennung nach sich zog oder umgekehrt, lässt sich schwer sagen. Zudem erkrankte seine Mutter in dieser Zeit schwer. Er begleitete sie bis zu ihrem Tod.
Irgendwann reicht flicken nicht mehr. Du fliegst einfach völlig auseinander.
Der Beruf wurde zur Belastung, immer mehr. Die alte Leidenschaft, mit der er ihn ausgeübt hatte, war aufgebraucht. «Ich war angeschlagen. Das ging über Jahre und wurde immer schlimmer. Ich bin an mancher Ausfahrt vorbeigefahren, weil ich dachte, das schaffe ich noch: kurz anhalten, ein Rad flicken und weiter. Irgendwann reicht flicken nicht mehr. Du fliegst einfach völlig auseinander.» Ein Totalausfall eben, der komplette Kontrollverlust.
Wie sind die beiden aus der Krise gekommen?
Christian gestand sich ein, «mein Leben, mein Berufsleben funktioniert für mich so nicht mehr. Ich kann und will so nicht mehr. Jetzt heisst es ‹Stopp› – nicht ein bisschen, sondern Stopp von allem.» Das sei der erste effektive, hilfreiche, auch nachhaltige Schritt gewesen, sagt er heute.
Bei Ursula gab es diesen Moment des Annehmens auch. Sie begann, darüber zu sprechen und merkte: «Vielen geht es ähnlich. Vor allem Frauen.» Aus verschiedenen Gründen geht sie in eine Psychotherapie. Ihr hilft, «dass das alles ganz normal ist. Das ist wie mit Kindern. Wenn man da gesagt kriegt, das ist normal, wie sich dein Kind verhält, ist das sehr tröstlich».
Wie leben sie heute?
Christian ist wieder verheiratet, demnächst ziehen die beiden um. In seinen Beruf steigt er wieder ein – aber anders. Der Stellenwert habe sich verändert. Ursula hat den Job gewechselt, «ein grosser Schritt für mich. Ich bin alleinerziehend, mehr oder weniger.» Ihre Kinder sind bald erwachsen und wohnen noch zu Hause. «Sie müssen lernen, dass ich nicht nur Mutter und Putzfrau bin, sondern auch eine Frau.»
Die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) setze einem psychisch zu, sagt Ursula. Ihr ist wichtig, dass man die Wechseljahre, «diese weibliche Midlife-Crisis» als Lebensphase wahr- und ernstnimmt. «Das gehört zum Leben, wie alles andere auch.»
Alle wollen gern alt werden, aber niemand will alt sein.
Sie halte es für Humbug, dass man im Alter gelassener werde. Sie werde nicht gelassener, eher ungehaltener. «Das hat auch damit zu tun, dass Altern in unserer Gesellschaft keinen Wert hat. Alle wollen gern alt werden, aber niemand will alt sein.»
Als ich Christian erzähle, dass der Begriff Midlife-Crisis erfunden wurde, als die ersten Winnetou-Verfilmungen liefen, schaute er mich gross an. Was das mit unserem Thema zu tun habe? «Ganz einfach», sage ich ihm: «Wenn Winnetou zu schnell geritten war, setzte er sich wie alle anderen Apachen hin und wartete so lange, bis seine Seele nachgekommen war.» Christian sagte, das sei ein schönes Bild dafür, was eine Midlife-Crisis bedeute.
«Man braucht Zeit und soll sich bloss nicht beeilen. Es dauert, ist nötig, geht vorbei.» Christian ist heute froh, dass die Krise so früh in sein Leben kam. Er hatte noch eine längerfristige Perspektive, etwas Neues zu beginnen.
Ulrike Ehlert sagt, es gehöre ganz normal dazu, über das Leben nachzudenken. Man müsse das nicht als Krise pathologisieren.
Das Eingeständnis, traurig zu sein
Ich denke mir, man muss eine sogenannte Krise vielleicht auch nicht permanent auf ihren Mehrwert abklopfen, wie uns die modische Maxime befiehlt, in allem die Chance entdecken zu müssen: Krise als Chance, Krebs als Chance.
Wem Letzteres zu weit geht, der kann eine Anfrage bei einer grossen Suchmaschine starten: «Krebs als Chance» hat 7 Millionen Treffer.
Nur: Wer in der Krise drinsteckt, ist mit anderem beschäftigt, als auch noch die Chance in einer schweren Zeit entdecken zu müssen oder zu sollen. Es braucht das Eingeständnis, dass man traurig ist. Und man darf das wohl auch sein. In einer Welt der hastenden Selbstoptimierung ist dafür scheinbar immer weniger Zeit. Aber ob etwas eine Chance ist oder Sinn macht, zeigt sich erst im Nachhinein. Oder wie Christian sagt: «Nicht beeilen, es braucht Zeit und geht vorbei.»